3. Kapitel

Jede Stadt, egal wie schön und friedlich sie ist, hat ihre dunklen Ecken. Thonx wusste das nur zu gut. Sein Job bestand darin, diese dunklen Ecken regelmäßig aufzusuchen und etwas Licht in sie zu bringen. Thonx saß darum auf seinem Motorrad und steuerte die Unterwelt an. Im Bezirk 2.8. handelte es sich dabei genaugenommen um einen aufgegebenen Supermarkt, in dem es mittlerweile eine Kneipe gab, die nirgendwo angemeldet war. Wenn in Bezirk 2.8. Verbrechen verübt wurden, wurden diese zumeist hier geplant oder sogar direkt ausgeführt.

Thonx fuhr bis zur Kneipe vor, die keinen offiziellen Namen hatte und von allen nur ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ genannt wurde, weil in der defekten Türe ein gelbes Schild hing, auf dem ‚Geschlossen‘ stand. Offenbar hatte das jemand direkt nach der Schließung des Supermarktes angebracht, denn mittlerweile würde niemand mehr auf die Idee kommen, dass man hier einkaufen könnte. Thonx stellte seine Maschine an der Wand ab und sofort erstarb das Auf und Ab des EKGs, das während der Fahrt seinen Herzschlag auf dem Bike angezeigt hatte und verwandelte sich in eine durchgezogene Linie. Thonx hatte sich diesen Herzschlag-Effekt zugelegt, weil er ihn witzig fand.

Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Thonx hatte die Kleidung der Supporter an, die aus nicht mehr bestand als Jeans und einem Pullover mit Bauchtasche. In dieser befand sich der Darker, der vom Aussehen her an eine Pistole erinnerte. Thonx schaute sich um, bevor er das Gebäude betrat. Die Umgebung von ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ bestand aus Haussilos, in denen ärmere Mitglieder der ComNation lebten, die sich damit abgefunden hatten, dass die dunkle Ecke ihres Bezirks und ihr Wohnort auf den gleichen Flecken Erde fielen. Nur in wenigen der Fenster brannte schon, oder noch, Licht. Thonx ging die drei Stufen zur Eingangstüre hinauf und drückte sie mit etwas Kraftaufwand auf. Mit langsamen Schritten trat er ein. Langsamkeit war wichtig. Wer langsam ging, wirkte selbstsicher, wer zu schnelle und zu kleine Schritte machte, wirkt nervös. Wenn es Fälle von AGB-Shaming im Bezirk 2.8. gab, schaute Thonx immer zuerst hier vorbei. Heute ging es um die Störung der Filteranlage, die er zuletzt selbst miterlebt hatte. Im ‚Goldenen Geschlossen‘ hausten genug Leute, die für etwas Geld ihre besten Freunde verrieten und manchmal traf Thonx gesuchte Verbrecher sogar direkt hier an. Er kannte die Besucher des ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ und sie kannten ihn.

Links vom Eingang standen früher mehrere Kühlschränke an der Wand, aus denen längst die Regale entfernt wurden und die nun als Schlafplätze dienten. Die Menschen schliefen aufrecht darin, von Gürteln um Hüfte und Schulter gehalten, weil ihnen das sicherer erschien, als auf dem Boden zu liegen. Gerade waren fünf der acht Schlafplätze besetzt. Auch die früheren Tiefkühlkisten hatte eine neue Funktion. Wo einst Kunden hineingriffen, um sich Pizza, Schnitzel, Pommes oder Torten zu greifen, fanden sich jetzt Ersatzteillager, in denen wie an einem Wühltisch nach nützlichen Dingen gesucht werden konnte. Thonx bemerkte in einer dieser Truhen beim Vorbeigehen eine Roboterhand, zwei demolierte Helme, mehrere zerrissene Mäntel, Hosen und Hemden, künstliche Gebisse und mindestens zwei angespitzte Stangen.

„Na, ermittelt der Cop wieder?“

Ein Kerl mit Narben im Gesicht und einer WeBrille, deren rechtes Glas so stark beschädigt war, dass er eine Augenklappe darübergelegt hatte, grinste ihn mit eingeschlagenen Zähnen an.

„Du schaust zu viele alte Filme!“, antwortete Thonx nachsichtig grinsend, „es gibt keine Cops mehr.“ Er kannte diesen hageren Typen und er fragte sich, was ihm passiert sein musste, dass seine Brille so beschädigt war. Nicht mal drei Prozent aller WeWorld-Mitglieder mussten im Verlauf ihres Lebens die Brille wegen einer Beschädigung reparieren oder austauschen lassen. Sie überstand sogar Stürze vom WeTower und hielt das Gewicht eines schweren Fahrzeugs aus, ebenso extreme Hitze und Kälte. Dennoch hatte es dieser Kerl hier irgendwie geschafft, sie zu beschädigen. Oder Typen, die es nicht gut mit ihm meinten.

„Ist doch alles egal!“, winkte der Mann ab, „am Ende sucht ihr euch die Schuldigen, die euch passen!“

„Taschendiebe wie du suchen sich ihre Opfer aus. Das heißt nicht, dass das alle so machen.“

„Wir sind alle Taschendiebe, mach dir da nichts vor“, murmelte der Kerl und schlurfte schließlich zu mehreren Leuten, die sich aus Kisten und einem halben Billardtisch eine Sitzgelegenheit gebaut hatten. Wo der andere Teil des Billardtisches abgeblieben war, wusste Thonx nicht, aber die tiefen Risse im Holz verrieten, dass er wohl durch Axthiebe geteilt wurde. Zwei Miniatur-Freiheitsstatuen hatten die fehlenden Beine ersetzt, wobei das Gesicht der einen zertrümmert und das der anderen mit blauer Farbe verschmiert war.

Bei kaum einem Tisch im ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ handelte es sich im engeren Sinne um einen Tisch, sondern fast immer um umfunktionierte Türen, Kartons, Verkehrsschilder oder auch Reifen. Das Gleiche galt für die Stühle, für die alte Kisten, Steine, Holzpaletten und Autositze genutzt wurden, bei denen Thonx nicht genau wissen wollte, wie sie den Weg hierher gefunden hatten. Das galt auch für die Sitzgelegenheit des tätowierten Kerls mit den breiten Armen, der mit der Würde eines Königs in einem gepolsterten Friseurstuhl thronte, aus dessen Lehne eine gebogene Stange ragte, an der noch die Trockenhaube hing. Doch die meisten Gestalten saßen nirgendwo, sondern standen halb verborgen in den Ecken oder liefen scheinbar ohne Ziel hin und her. Thonx ging zum Tresen, der früher die Wursttheke war. Hinter dem Barkeeper stiegen Whisky-Regalreihen wackelig bis zur Zimmerdecke hinauf. Die jeweils höhere Regalreihe ruhte dabei immer auf mehreren Mais- oder Thunfischdosen. Aus einem Eck der Supermarktruine kam Musik aus einer defekten Anlage, weswegen es immer wieder längere Aussetzer gab.

„Na?“ Thonx lehnte sich an den Tresen und nickte dem ergrauten Barkeeper zu, der ein auffälliges Tattoo in Form einer Zielscheibe auf der Stirn hatte. Über seine Schulter hing ein Abwaschtuch und er hatte sich sogar eine Schürze umgebunden, die offenbar noch aus den Tagen stammte, als es sich beim ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ um einen Supermarkt handelte. Es sprach für die Autorität dieses massigen Kerls, dass er trotz dieser Schürze von niemandem gehänselt wurde.

„Triple Green?“ Er stellte das mehr fest, als dass er fragte.

Thonx nickte und der Barkeeper ging zu seinen Regalen, griff sich zwei Flaschen und kippte deren Inhalt in eine Kaffeetasse.

„Die drei Whiskygläser sind gerade vergeben“, erklärte er mit rauer, tiefer Stimme, während er eine Zitrone ins Getränk gab.

„Passt schon“, murmelte Thonx und nahm einen Schluck. Es schmeckte wie eine Mischung aus Salzwasser und Whisky. Er starrte eine Weile in seine Kaffeetasse. Der Barkeeper nahm sein Handtuch und wischte damit über den Tresen.

„Es gab einen Filtervorfall“, murmelte Thonx und vergewisserte sich unauffällig, dass sie niemand hören konnte.

„Hmm“, murmelte der Kerl unbeeindruckt.

„Hast du was gehört?“

„Hmm“, wiederholter er und Thonx verstand, was er meinte.

„Wie teuer ist der Tripple Green?“

„3,5 C-Dollar“, kam es brummend zurück und nach einer kurzen Pause, „und 1500 C-Dollar Trinkgeld.“

„Wow“, meinte Thonx anerkennend, „du bist mittlerweile mein teuerster Informa-“

„Ich bin Barkeeper“, fuhr ihn der Mann an, „und bekomme deswegen Trinkgeld, was kein Verbrechen ist. In der Gastronomie lebt man nur vom Trinkgeld!“

„Stimmt!“, gab Thonx nach, „ich hoffe nur, du bist das Trinkgeld wert.“

„Niemand weit und breit macht einen besseren Tripple Green als ich!“

Thonx lächelte und der Barkeeper goss sich Wein und Wodka in ein Glas. Er stieß mit Thonx an, bevor er den Inhalt mit einer schwungvollen Handbewegung über seinen Rücken hinweg gegen die Wand kippte. Aber nicht irgendwohin, sondern zielsicher auf mehrere Kabel, die aus einem Riss direkt neben den Regalreihen hingen. Sofort gab es einen Stromausfall und das ewige Dämmerlicht des ‚Zum Goldenen Geschlossen‘ versank in Dunkelheit. Der Barkeeper beugte sich über den Tresen und flüsterte Thonx einen Namen ins Ohr. Danach beruhigte er mit seiner tiefen Stimme die Leute. An einem Ort, wo fast jeder Jäger und Gejagter zugleich war und alle gute Gründe hatten, Überraschungen zu fürchten, konnte so eine Situation schnell eskalieren. „Keine Sorge, das ist nur ein Kurzschluss! Das haben wir gleich!“ Tatsächlich gingen die Lichter Sekunden später schon wieder an und spendeten erneut ihre geizige Helligkeit.

„Bravo!“, schrie jemand und, „unser CEO!“, ein anderer. Manche applaudierten.

Der Barkeeper schob einen Briefumschlag in seine Schürzentasche.

Die Eingangstüre fiel zu. Thonx hatte das ‚Zum Goldenen Geschlosssen‘ gerade verlassen.

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