1. Kapitel
Wie ein aufgeregtes Insekt flog die Drohne immer wieder gegen das Fenster, geriet dabei leicht ins Trudeln und versuchte es erneut. Thonx beobachtete sie eine Zeit lang und verspürte dabei so etwas wie Mitleid, obwohl er wusste, dass sie nur aus einigen Schaltkreisen und einem Algorithmus bestand. Zwischen all den Lichtern, die die Nacht zum Tag machten, fiel sie nicht mehr auf als eine Fahrradlampe neben einem Autoscheinwerfer.
Von gigantischen Reklametafeln aus warben Shampoos, Jeans, Rasierer und Kaugummis um Kunden. Die farblich wechselnden Werbebotschaften tauchten Thonx Gesicht mal in lila, dann in gelb oder blau und doch blieben seine Augen auf diese hartnäckige Drohne fokussiert, die immer noch gegen das Fenster flog. Er wusste, dass sie jetzt gleich irgendwo landen würde, bis ihre Sensoren Änderungen in der Wohnung feststellen, die sich in Form von Bewegungen, Hitze oder Stimmen äußern könnten, um daraufhin einen weiteren Zulieferungsversuch zu starten. Thonx schaute gerne von seiner Wohnung aus in die Häuserschluchten um sich herum. Er folgte den rollenden und schwebenden Fahrzeugen, die sich lautlos ihren Weg bahnten. Manchmal blendeten ihre Lichthupen auf und obwohl sie eingesetzt wurden, um Ärger auszudrücken, wirken sie in ihrer Lautlosigkeit erstaunlich friedlich, ja fast beruhigend. Beim Blick zum Himmel leuchteten unzählige kleine rote Punkte auf, die ständig ihre Position änderten. Bei jedem von ihnen handelte es sich um eine Drohne wie die, welche vergeblich ihre Fracht abliefern wollte. Obwohl es sich um so viele handelte, gelang es ihnen erstaunlich gut, dezent im Hintergrund zu bleiben. Das überraschte umso mehr, weil die Luft bei Tag und Nacht von ihnen erfüllt war, die von einer Tafel Schokolade über einen Staubsauger bis hin zu einem neuen SkyCar jede Bestellung an ihr Ziel transportierten.
Thonx saß in seinem weichen schwarzen Sessel und trank Rotwein aus der Flasche, während er sich den Trubel auf den Straßen und in der Luft anschaute, als sei es ein spannender Film. Nach einer Weile murmelt er „aus“ und die Drohnen und Fahrzeuge, die Reklamen und die Hochhäuser auf der anderen Straßenseite verschwanden schlagartig. Wo bis eben ein Fenster war, ging der Blick nun auf die blaue Tapete der Wohnung. Thonx lebte in einem Tiefhaus, also dem in den Erdboden verlängerten Teil eines Hochhauses. In einem Tiefhaus zu wohnen war natürlich weniger attraktiv. Es gab keine Aussicht, keinen Balkon, kein Vogelgezwitscher und keine Sonnenstrahlen, die sich am Morgen übers Bett legten. Eigentlich gab es nur einen Vorzug: die günstigere Miete. Damit sich die Bewohner unter der Erde etwas freier fühlten, konnten sie durch simulierte Fenster die Aussicht genießen und dabei zwischen allen Stockwerken des Hochhauses wählen. Thonx saß weiter im Sessel und starrte gegen die blaue Wand. Er hatte das simulierte Fenster geschlossen, weil er jetzt endlich aufräumen wollte. Seine Wohnung bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Flur und eigentlich sah sie gar nicht so unordentlich aus. Zwar hing ein Socken über der Tischkante und auch das Paar Turnschuhe stand nicht im Schuhschrank, sondern mitten im Wohnzimmer, doch solche Unordnung war oberflächlich und schnell zu beseitigen. Eigentlich mochte Thonx seine Wohneinheit -86/5 sogar. Sie befand sich im 86. Stock unter der Erde und dort hinter Zimmertüre 5.
Im Wohnzimmer standen der Sessel, ein Sofa, ein Schreibtisch und eine Kommode. Eine reduzierte Einrichtung, Thonx brauchte nicht viel. Im Schlafzimmer genügten ein schmaler Kleiderschrank sowie ein Nachttisch, während es im Bad neben der Toilette noch eine Dusche gab. Diese konnte zwei Meter in die Tiefe fahren, wodurch ein kleiner Pool entstand, der den einzigen kleinen Luxus in diesem Tiefhaus darstellte. Ob Thonx leise Nachbarn hatte, wusste er nicht. Die geräuschschluckenden Wände würden auch den lautesten Ehestreit unterdrücken. Umgekehrt musste auch er keine Rücksicht nehmen. Er könnte Schlagzeug spielen, seine Lieblingsmusik aufdrehen oder einfach nur herumbrüllen. Aber er machte nichts davon. Fast nie. Stattdessen stand er manchmal vor dem Spiegel und hielt Ausschau nach ersten Anzeichen des Alters. Tatsächlich gab es mittlerweile ein paar graue Strähnen in seinem schwarzen Schopf und kleine Lachfalten unter seinen blauen Augen. Auch verbarg sein Hemd kein Sixpack mehr. Er war nicht dick geworden, das nicht, aber eben auch nicht mehr so durchtrainiert wie früher. In solchen Momenten fühlte er sich älter, als er sich mit siebenunddreißig Jahren fühlen sollte, wie ihm selbst klar war.
Nach dem Kommando „an“ ließ er sich vom simulierten Fenster wieder den Blick auf die Häuserschlucht anzeigen und nahm einen weiteren Schluck aus der Weinflasche. Er würde doch erst morgen aufräumen. Aber dann ganz bestimmt. Er konnte die Drohne nirgendwo mehr sehen, die vorhin vergeblich ihre Ware abliefern wollte. Offenbar hatte sie zwischenzeitlich Erfolg gehabt. Ein animiertes Mädchen, das etwa zehn Stockwerke groß war, sprang auf der gegenüberliegenden Straßenseite von einem Hochhaus zum anderen, um danach das Geheimnis ihrer Sprungkraft zu zeigen: den Schokoriegel Kneusch. Thonx mochte animierte Werbung. In der nächsten Simulation fuhr ein weißer Geländewagen mit hoher Geschwindigkeit über die Fassade hinweg, als wäre es eine spiegelglatte Fahrbahn. Gerade wollte er spektakulär bremsen und sich dabei drehen, als es dunkel wurde und die Werbung schlagartig erlosch.
Alle Lichter fielen aus. Die Stadt lag plötzlich in finsterer Nacht und die Hochhäuser ragten in der Dunkelheit empor wie Ruinen einer vergangenen Zeit. Nirgendwo blinkte und glitzerte mehr eine Reklametafel. Thonx sprang auf und schaute konzentriert auf das simulierte Fenster, als suchte er nach Hinweisen, was passiert war. Während er sich noch orientierte und sich nur die roten Punkte am Himmel weiterbewegten, als sei nichts geschehen, gingen die Lichter schon wieder an und nach einem geisterhaften Moment der Ruhe funkelte und glitzerte die Stadt wieder, als sei nichts gewesen. Der Geländewagen drehte sich blieb schließlich stehen, ohne von der Bahn abgekommen zu sein, bevor schon die nächste Werbe-Simulation startete.
„Da hat sich jemand gerade mächtig Ärger eingebrockt!“, murmelte Thonx, als er schon einen Anruf erhielt. Er stand auf und tippte gegen seine Brille, um die Verbindung herzustellen.
„Hallo Thonx, ich freue mich, mit dir zu sprechen!“
Die weibliche Stimme klang freundlich und hatte zugleich etwas an sich, als würde sie ein Geheimnis verbergen, das nur sie beide kannten.
„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Was gibt es denn?“
„In deinem Bezirk 2.8. gab es eine schwere Verletzung der AGBs und wir würden uns freuen, wenn du dich um die Aufklärung des Falls kümmern könntest. Wäre das möglich? Wir möchten den Fall nur ungern jemand anderem geben.“
„Ich habe es mitbekommen, ich hatte gerade aus dem künstlichen Fenster gesehen, als es passiert ist. Ich schaue da viel zu oft raus.“
In diesem Moment schwebten gleich fünf Drohnen hintereinander am Fenster vorbei. Wohin sie auf dem Weg waren, konnte Thonx nicht sehen, weil sie schon wieder aus seinem Blickfeld verschwanden.
„Ja, den Eindruck habe ich auch. Das Leben bietet so vieles, was du verpasst, während du aus dem Fenster schaust.“
„Wollen wir essen gehen?“, nutzte er die Vorlage.
„Ich bin zwar so programmiert, dass ich wie ein Mensch klinge, aber da du mich schon so direkt fragst, muss ich dir antworten, dass ich aus nicht mehr als einer Audiodatei bestehe. Ich denke, ich sage dir das gleich zu Beginn, um dir mögliche Enttäuschungen zu ersparen.“
„Oh, okay, das ist nett von dir, ein sehr fairer Zug. Ich hätte nicht gemerkt, dass du nur Plastikschrott bist.“
„Das nehme ich mal als Kompliment, auch wenn du offenbar keine Ahnung vom Stand der Technik hast.“
„Kennst du vielleicht richtige Frauen? Frauen, die so sind wie du, aber aus etwas mehr bestehen als einer kalten Computerdatei? Kolleginnen vielleicht?“
Während er mit der Sprachsoftware redete, schaute er weiter aus dem Fenster. Gerade nahm auf der Hausfassade wieder das Mädchen Anlauf, das für den Kneusch-Schokoriegel warb.
„Wir haben hier in der Support-Zentrale noch viele Frauen und zu den meisten habe ich ein gutes und kollegiales Verhältnis. Das ist ja auch wichtig, damit man sich gegenüber den Chefs gegenseitig unterstützen kann.“
„Ja, absolut. Absolut. Kannst du mir eine deiner Freundinnen mal vorstellen? Du kannst auch zum Date mitkommen, wenn du willst. Ich habe hier ein paar Hörbücher rumfliegen, vielleicht würdest du dich mit denen verstehen?“
Thonx wechselte auf seinem simulierten Fenster das Stockwerk und sprang dabei von Etage 34 auf 51 und schließlich auf die 64. Mit jeder Änderung wurden der Straßenverkehr und die Fußgänger kleiner und unwirklicher.
„Können die Hörbücher reagieren?“
„Nein, die sind noch richtig alt.“
„Schade. Dann sind sie mir zu langweilig, ich habe gewisse Ansprüche.“
„Ja, Anspruch ist ein gutes Stichwort! Wie wäre es denn jetzt mit einer deiner Freundinnen? Sie und ich und du. Ein netter Abend im Restaurant oder bei mir? Oder beides.“
„Ich denke, du könntest gut zur Sus…mein Zeitkontingent für Smalltalk ist aufgebraucht. Es tut mir leid. Übernimmst du den Fall der schweren AGB-Verletzung im Bezirk 2.8.? Wir würden uns freuen und halten dich für absolut geeignet dafür.“
„Sind die irre?“, schimpfte Thonx, „die haben doch tatsächlich die Smalltalk-Spanne reduziert! Sind die verrückt geworden?“
Er kam sich betrogen vor.
„Lieber Thonx, wir bräuchten deine Antwort in den nächsten zehn Sekunden, sonst geht der Auftrag an jemand anderen. Wir haben schon jetzt eine Häufung an Beschwerden aus Bezirk 2.8. von dreihundertsieben Prozent. Die Kunden sind irritiert und wollen wissen, was geschehen ist. Das sind wir ihnen schuldig. 5…4…3…2…“
„Nur die Ruhe, ich mache es ja.“
„Super, das freut mich sehr. Hast du noch Fragen, die deinen Einsatz betreffen?“
„Ja, was ist mit der Freundin von dir, die du erwähnt hast und die-“
„Viel Erfolg bei deinem Einsatz, mein lieber Thonx.“
„Halt, was? Stopp! Nicht auflegen! Hallo? Hallo? Wann wollen wir uns denn jetzt genau treffen? Ach, verdammt!“
Stille. Das grüne Licht an der Brille erlosch und Thonx warf aus Frust ein Glas vom Tisch, das lautlos auf dem weichen Boden landete. Er wollte ja ohnehin morgen aufräumen, da kam es auf etwas mehr Unordnung auch nicht mehr an.
„Unverschämt! Unmenschlich!“, ärgerte er sich über die Reduzierung der Smalltalk-Zeit. Offenbar wollte die Support-Führung, dass die Gespräche zügiger ablaufen. Thonx fürchtete, dass dieses Zeitkontingent irgendwann ganz gestrichen wird. Er zog Turnschuhe an und seinen blauen Pullover mit der Bauchtasche und trat hinaus in den Flur des Tiefhauses. Der rote Teppichboden schluckte jeden Schritt und trug damit seinen Teil zur Stille im Gebäude bei. An den weißen Wänden fiel ein Wort auf, das rot leuchtete und aus vier Buchstaben bestand, die in einem Kreis geschrieben standen: LUNA. Thonx informierte die Kundenhotline über diesen Fall von Vandalismus. Dafür reichte es, ein Foto zu machen und mit dem Begriff #CWW zu taggen, was für CleanWeWorld stand und schon wurde der Regelverstoß automatisch an die zuständige Abteilung weitergeleitet. „Vielen Dank, dass Sie die WeWorld sauber halten. Ihnen wurde soeben ein Gutschein in Höhe von 25 C-Dollar freigeschaltet“, hieß es in einer Mail, die nur Sekunden nach der Meldung bei Thonx eintraf.
Er betrat den leeren Aufzug, der ihn zur Oberfläche brachte und schaute sich im Spiegel an. Er übte nacheinander zu lachen und ein wütendes Gesicht zu zeigen. Mit einem leisen blink kam der Aufzug zum Stehen und ließ die Türe lautlos zur Seite schwingen. Thonx ging mit großen Schritten durch die Aula, wo sich zu dieser Zeit niemand aufhielt und die aus nicht mehr als einem großen Raum mit einigen Bänken bestand.
„So spät noch unterwegs?“, rief ihm der junge Mann hinter der Rezeption zu. Er hatte eine gelbe Weste an und auf dem Kopf eine ebenfalls gelbe Mütze.
„Ja, es gab einen AGB-Vorfall.“
„Können diese Typen ihre Übergriffe nicht am Tag machen! Wie unhöflich, den Leuten die Nacht so zu ruinieren.“
„Passt schon, dann bin ich zumindest richtig sauer!“
„Die haben keine Ahnung, wen sie da geweckt haben!“
„So ist es, Max! Hau rein.“
„Du auch.“
Thonx mochte Max, auch wenn er nur ein Roboter war. Schon öffnete sich die Ausgangstüre und wie immer dauerte es einige Sekunden, bevor Thonx sich an die Lautstärke der Straße gewöhnte. Eigentlich war es nicht wirklich laut, doch im Tiefhaus wurden Geräusche so sehr gedämpft, dass nun schon ein vorbeirollendes Fahrrad wie eine Lokomotive klang. Dieser Zustand dauert aber immer nur wenige Augenblicke, bevor die Ohren sich daran gewöhnten.
Die Kühle der Nacht legte sich um Thonx‘ Schultern, während er unter den gigantischen Reklametafeln und Werbesimulationen den Gehweg entlanglief. Ihre Farben ließen die dunklen Fenster der Hochhäuser glänzen wie die Facettenaugen eines Insekts. Menschen liefen gut gelaunt umher. Neugierig darauf, was diese nicht mehr junge Nacht noch bringen würde. Es hatte etwas geregnet, weswegen sich die leuchtende Reklame in den Pfützen spiegelte. Thonx atmete durch.
Er wusste, wo er hinmusste.