Es ist nicht so wirklich klar, wer im Buch der Weisheit eigentlich das Wort führt, aber diese Person hat auf jeden Fall eine starke Meinung zu allem, worüber sie spricht. Dabei sorgen schon die ersten Feststellungen für eine gewisse Verwunderung, wenn es heißt: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden.“ Wer hat ihm denn den Tod in seine Schöpfung hineingepfuscht, wenn es nicht Gottes eigene Idee war? Wenn er „keine Freude am Untergang der Lebenden“ hat, ist außerdem die Frage, warum diese Lebenden im Laufe der Jahrhunderte immer früher sterben mussten, nachdem mit Methusalem einer sogar an der magischen Grenze von tausend Jahren gekratzt hatte.

Danach folgte eine göttliche Regel – auch wenn sie viele Ausnahmen kannte -, laut der mit spätestens 120 Jahren Schluss sein muss. In diesem Alter starb unter anderem auch Moses. Warum es den Tod überhaupt gibt, wird so begründet: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt.“ Es wird nicht weiter ausgeführt, wie man sich das vorstellen soll. Aber es relativiert die Macht Gottes doch sehr, dass jemand anderes als er selbst etwas so Prägendes gegen seinen Willen in die Welt setzen konnte.

An anderer Stelle knöpft sich der anonyme Redner die „Gottlosen“ vor: „Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen: / Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Heilung.“ Diese Gottlosen werden im weiteren Verlauf zur wahren Geisel des gerechten Menschen erklärt: „Lasst uns dem Gerechten auflauern! / Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg“, würden sie sich gegenseitig ermutigen, denn: „Er ist unserer Gesinnung ein Vorwurf, / schon sein Anblick ist uns lästig.“ Wer gerecht ist, muss also verschwinden, um die Gottlosen nicht daran zu erinnern, dass sie gottlos sind.

Wobei verschwinden wortwörtlich gemeint ist, denn der Redner fährt damit fort, dass die Gottlosen tatsächlich Gottesfürchtige zum Tode verurteilt haben. Damit würden sie aber nur beweisen, dass sie „von Gottes Geheimnissen nichts verstehen“, denn „die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand / und keine Folter kann sie berühren. In den Augen der Toren schienen sie gestorben, / ihr Heimgang galt als Unglück, ihr Scheiden von uns als Vernichtung; / sie aber sind in Frieden.“ Was von den Gottlosen nicht behauptet werden kann, denn Gott wird „über sie lachen“, bevor sie „völlig vernichtet werden / und Qualen erleiden.“

Neugierde kann für eine „ungläubige Seele“ sprechen

An dieser Stelle wird nun der Weisheit die zentrale Rolle in der Welt zuerkannt. In hymnischer Begeisterung wird ihre Schönheit auf eben die Art gewürdigt, die im Hohelied gänzlich fehlte, wo die anmutige Geliebte mit Ziegen, Schafen und Türmen verglichen wurde. Was umso mehr überrascht, da beide Liebesbekundungen von Salomo zu stammen scheinen. Weisheit ist ein „Hauch der Kraft Gottes“, der „Widerschein des eigenen Lichts“, der „ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft“ oder auch „das Bild seiner Güte.“ Wer von der Weisheit erfüllt ist, lebt ein Leben voller „Frohsinn und Freude“, denn „der Umgang mit ihr hat nichts Bitteres.“

Weisheit ist auch als geheimnisvolle Kraft bei der Schöpfung der Welt zugegen gewesen und sie ist es auch, die die Vormacht des Menschen über die Tiere ermöglichte. Allerdings dauerte es nicht lange, bevor der erste Mensch „von der Weisheit abfiel“, was zum „Brudermord“ führte. Womit Kain eindeutig als erster Unweiser bestimmt ist, was ein wenig überraschend bedeutet, dass der Sündenfall für Adam und Eva keine solche Abwertung zur Folge hatte, wie sie ihr Sohn und erste Mörder der Weltgeschichte ertragen musste. Dass die Erde „seinetwegen überflutet wurde“, scheint dann aber doch ein wenig übertrieben, schließlich vergingen zwischen dem Mord an Abel und der Sintflut noch mehrere Generationen, die auch im Sinne einer dramaturgischen Straffung der Geschichte nicht einfach ignoriert werden sollten.

Wobei auffällt, dass im Buch der Weisheit vermeintliche Fehltritte bzw. unweise Entscheidungen erstaunlich bösartig gedeutet werden, denn an anderer Stelle heißt es: „Und eine Salzsäule ragte als Denkmal einer ungläubigen Seele empor.“ Womit auf die Frau von Lot angespielt wird, die bei der Flucht auf die Städte Sodom und Gomorrha zurückblickte und so ihr kristallines Ende fand. Natürlich war es ein Fehler von ihr gewesen, da die Engel sie ausdrücklich ermahnten, nicht zurückzublicken, aber Menschen sind eben neugierig und in dieser Situation fiel im wahrsten Sinne Feuer vom Himmel. Es könnte eine rein instinktive Reaktion gewesen sein, um zu sehen, ob sie wirklich außerhalb des Infernos sind. Doch für diese Rede über Weisheit kann ein solches Verhalten nur mit dem Vorhandensein einer „ungläubigen Seele“ erklärt werden, was zeigt, dass Weisheit und Nachsicht zwei sehr verschiedene Dinge sind und sich nicht notwendigerweise ergänzen.

(Fortsetzung folgt…)