Salomo hatte vermutlich die meisten Frauen aller judäischen Könige und so erstaunt es nicht, dass sich dieses Liebesgedicht um ihn und eine Auserwählte drehte. Um die Romantik nicht abzuwürgen, werden zu Gunsten dieser Herzensdame die fast tausend anderen Frauen unterschlagen, mit denen der König ebenfalls eine Beziehung hatte. Übrigens nicht hintereinander, sondern gleichzeitig. Wenn man das ignoriert, wirkt das Folgende tatsächlich wie die eine große Liebe, die man nur einmal im Leben findet: „Mit Küssen seines Mundes küsse er mich. / Süßer als Wein ist deine Liebe“, säuselt die namenlose Schöne, über deren Aussehen nichts bekannt wird. Ein Versäumnis, das jedoch nicht an fehlenden Versuchen einer Beschreibung scheitert, sondern an den gewählten Vergleichen.
Da ist die Rede von Haar, das „einer Herde von Ziegen gleicht, / die herabzieht von Gileads Bergen“ und von Zähnen „wie eine Herde / frisch geschorener Schafe.“ Ihre Wangen werden mit dem „Riss eines Granatapfels“ verglichen, die Brüste mit „zwei Kitzlein, / die Zwillinge einer Gazelle, / die unter Lilien weiden“ und „wie der Turm Davids“ ist der Hals der Angebeteten, „in Schichten von Steinen erbaut; tausend Schilde hängen daran, / lauter Waffen von Helden.“ Solche Architekturvergleiche dürften einen Baumeister mehr erfreuen als eine Frau, die sich umworben sieht. Sie hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, statt dieser Tier- und Bauwerkvergleiche nur jenen Satz zu hören, der in seiner Schlichtheit zwischen all den anderen fast etwas untergeht: „Alles an dir ist schön, meine Freundin, kein Makel haftet an dir.“
Zwei Menschen, die das Talent teilen, Menschen nicht beschreiben zu können
Letztlich bewährte sich diese Liebe aber auch in Krisenzeiten, denn als ihr Geliebter einmal nicht zu ihr kam, machte sich die Frau, deren Nase „wie der Libanonturm ist, / der gegen Damaskus schaut“, auf und suchte ihn in den Straßen und Gassen. Dabei wurde sie von der Stadtwache aufgegriffen, die tat, was man von ihr genau nicht erwarten würde, denn „sie schlugen, sie verletzten mich. Meinen Mantel entrissen sie mir“, beschwerte sich die so gepeinigte, bevor sie in den Armen ihres Geliebten schließlich all diesen Frust vergessen konnte.
Dass auch ihr die Fähigkeit gegeben war, Menschen nicht beschreiben zu können, verraten diese Worte: „Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen, / gebadet in Milch, sitzend am Wasser.“ Vielleicht war diese Gemeinsamkeit ein Geheimnis ihres großen Glücks, das aber wie gesagt wohl nur auf dem Papier bestand. Salomo hatte jedenfalls zu viele Frauen mit dem „wuchs wie eine Palme“, die er „ersteigen“ wollte, um sich nur um die „Brüste wie Trauben“ nur einer einzigen Liebhaberin zu kümmern. Allerdings gibt es dann doch noch ein passendes Bild dafür, wie sich diese Liebenden gegenseitig erkannt haben:
„Wie eine Lilie unter Disteln, / so ist meine Freundin unter den Töchtern. Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, / so ist mein Geliebter unter den Söhnen.“ Zumindest ist das romantischer als dieser Versuch, ein Kompliment über die Frisur seiner Geliebten zu machen: „Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen.“
(Fortsetzung folgt…)