Offenbar hatte niemand damit gerechnet, dass Moses so lange wegbleibt. Wobei vierzig Tage tatsächlich eine halbe Ewigkeit waren und auf jeden Fall länger, als die gesamte vorherige Flucht aus Ägypten gedauert hatte. Darum gingen die Israeliten irgendwann zu Aaron und meinten: „Dieser Moses, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten herausgeführt hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist.“ Wenn man bedenkt, dass es sich bei „diesem Moses“ immerhin um Aarons Bruder handelte, war das eine erstaunlich empathielose Bemerkung. Aaron sollte ihnen nun „neue Götter“ machen, „die vor uns herziehen“ und sie gaben ihm dafür ihre goldenen Ohrringe zum einschmelzen. Daraus erschuf Aaron ein Goldenes Kalb, das kurzerhand zur neuen Gottheit erklärt wurde, die das Volk aus Ägypten befreit hat.

Gott muss das schwer getroffen haben. Hatte er nicht gerade vierzig Tage lang voller Euphorie seinen Umzug unter die Israeliten vorbereitet? Und jetzt das? Sie fielen von ihm ab und erklärten seine Taten zu denen einer Vieh-Skulptur. Er hatte das Rote Meer geteilt, er hatte die Plagen über Ägypten gebracht und er hatte in der Wüste Wasser aus Felsen sprudeln und Brot vom Himmel fallen lassen. Das war alles erst ein paar Wochen her und schon schien es ganz und gar vergessen. Eine besondere Tragik liegt darin, dass Gott nur deswegen vierzig Tage benötigte, weil er sich gründliche Gedanken über seine künftige Rolle inmitten des Volks gemacht hatte.

Natürlich bekam er mit, was für ein Unwesen am Fuße des Berges getrieben wurde. Wie tief der Schmerz saß, musste der geschockte Moses erfahren, als Gott ihm verriet: „Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt! Dich aber will ich zu einem großen Volk machen.“ Gott war bereit, wieder ganz von vorne anzufangen, was seine große Idee eines „heiligen Volkes“ anging. Doch Moses widersprach kühn. Während die Juden glaubten, dass er nicht mehr lebt, stritt er in Wahrheit gerade mit Gott darüber, sie zu verschonen. Wobei er die gleiche Taktik anwendete, die einst auch Abraham nutzte. Er erinnerte Gott an seine eigenen Maßstäbe und die katastrophale Außendarstellung seines Plans. Moses fragte darum, ob die Ägypter wirklich lästern sollen: „In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen.“ Er ging so weit zu prophezeien, dass Gott es im Nachhinein bereuen würde, die Juden „vom Erdboden verschwinden zu lassen.“

Die zwei Tontafeln mit den Zehn Geboten gehen zu Bruch

Noch nie hatte jemand in diesem Ton mit ihm gesprochen, doch Moses sollte Erfolg damit haben. Vielleicht auch, weil er noch mal an den langen Weg erinnert, den der HERR schon mit seinem Volk gegangen war. Er sprach über Abraham, über Issak und auch über Jakob. Vor allem aber erinnerte er daran, dass Gott ihnen allen „geschworen“ hatte, ihre Nachkommen „so zahlreich zu machen wie die Sterne am Himmel.“ Am Ende ließ Gott sich also überzeugen, das Volk nicht bis auf Moses selbst zu reduzieren und mit ihm wieder von vorne zu beginnen. Das heißt aber nicht, dass Moses zufrieden war. Im Gegenteil marschierte er zornig vom Berg hinab und auf das Zeltlager der Israeliten zu.

In seinen Händen hielt er die zwei Tontafeln mit den Zehn Geboten. Als er das Goldene Kalb, die Tänze und die Ausgelassenheit der Leute sah, über deren Leben er gerade mit Gott streiten musste, verlor er endgültig die Fassung. Vor Wut zerschmettert er die beiden Tontafeln, warf das Goldene Kalb ins Feuer und stampfte es zu Staub, den er den Israeliten ins Wasser tat – was auch dann seltsam bleibt, wenn man seine emotionale Ausnahmesituation berücksichtigt. Dass er auf seinen Bruder ganz besonders wütend war, versteht sich da  fast von selbst. Umso überraschender ist es, dass Aaron trotzdem das überlebte, was nach dem ersten Wutausbruch folgte.

Moses ging nämlich noch einen Schritt weiter, einen sehr großen Schritt. Vielleicht ging er auch einfach einen Schritt zu weit. Jedenfalls sammelte er Getreue um sich, die „für den HERRN“ sind und ließ sie ein Massaker an „Brüdern, Freunden und Nachbarn“ begehen. Dreitausend der 600.000 Israeliten fielen ihm zum Opfer. Nach dem Töten gab es eine Segnung für die Mörder, denen ausgerechnet Aaron nicht zum Opfer fiel. Da er immerhin bereitwillig das Goldene Kalb gebaut hatte, ist das einer der weniger konsequenten Aspekte dieses Blutrauschs.

Schon am nächsten Tag stieg Moses wieder zu Gott hinauf, der nun einen Rückzieher machte: Er wollte nicht mehr unter den Israeliten wohnen. Offenbar war er zu gekränkt darüber, wie schnell sich das Volk von ihm abgewendet hatte. Moses gelang es immerhin, ihn zu überreden, sich in einem Zelt am Rande der Siedlung niederzulassen. Dort ging Moses nun immer hin, wenn Gott Gesprächsbedarf hatte, wobei dieser stets als Wolkensäule auftrat. Die Juden beobachteten dieses übernatürliche Phänomen neugierig und warfen sich stets auf den Boden, sobald sie Gott „am Zelteingang stehen sahen.“ Über die Gespräche, die der HERR und Moses da führten, ist wenig bekannt, aber sie scheinen in guter Stimmung stattgefunden zu haben. Sie verliefen „von Angesicht zu Angesicht, wie wenn man mit einem Freund spricht“ – also angenommen, der Freund ist ein Wirbelwind. Vor allem gelang es Moses dabei, Gottes Meinung erneut zu ändern und so reiste er künftig doch „in der Mitte“ des Volkes mit.

Moses lächelt und die Menschen bekommen Angst

Schließlich musste Moses noch zwei Ersatztafeln für die anfertigen, die er zertrümmert hatte. Mit ihnen stieg er wieder auf den Berg Sinai, wo Gott sie erneut mit den Zehn Geboten beschriftete. Warum dafür nun wieder der sehr alte Moses auf den beschwerlichen Weg hinauf auf den Gipfel geschickt wurde, statt, dass das alles im Offenbarungszelt erledigt werden konnte, bleibt unklar. Auch dieses Mal durfte kein anderer Mensch den Berg betreten und „kein Schaf und kein Rind.“ Erneut wurden es wieder vierzig Tage, bis Moses zu seinem Volk zurückkehrte. Er hatte damit nicht weniger als achtzig Tage auf dem Berggipfel verbracht. Ob er etwas nervös war, als er nach seinen zweiten vierzig Tagen hinabstieg, verrät die Bibel nicht. Aber es ist nur schwer vorstellbar, dass er nicht auch an die Horrorvorstellung gedacht hatte, dass die Juden wieder um irgendwas herumtanzen, was sie nun als Gottheit verehren. Vielleicht den Schädel eines verdursteten Kamels oder das Fell eines Steinbocks. Aber nichts davon trat ein.

Die Juden hielten zum HERRN, was Moses (und Gott) gefiel: „Die Haut seines Gesichts strahlte“, heißt es, doch als Aaron und die anderen Israeliten das bemerkten, überfiel sie Angst. War Moses so ein schlecht gelaunter Mann, dass es für Irritationen sorgte, wenn er mal mit strahlendem Gesicht angetroffen wurde? Es spielte am Ende keine große Rolle. Moses hatte die Juden gerettet, er hatte auch Gottes Rückzug vom Umzug zu seinem Volk verhindert und er hatte die beiden Tontafeln mit den Zehn Geboten dabei. Gut, er hatte auch den Mord an dreitausend Menschen angeordnet. Es waren also insgesamt sehr aufregende Wochen gewesen, die auch ihm alles abverlangt hatten. Vor allem ihm. Und nichts sprach dafür, dass sich daran absehbar etwas ändern würde.

(Fortsetzung folgt…)