Moses stieg auf den Berg, wo Gott schon auf ihn wartete und daran erinnerte, dass er die Juden auf „Adlerflügeln“ hierher gebracht habe. Dann stellt er fest: „Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ Warum er nun genau dieses Volk ausgewählt hatte, das sich auf der bisherigen Reise oft als erstaunlich gereizt und ungeduldig erwies, verrät er nicht. Moses stieg danach vom Berg hinab und erzählte dem Volk, was er erfahren hatte. Vor allem der Teil mit dem heiligen Volk stieß auf die Zustimmung jener, die vor wenigen Tagen noch Sklaven waren und diese Aufwertung darum voll und ganz begrüßten.

Als Gott selbst am dritten Tag vom Himmel herabstieg, gab er sich große Mühe, dass es auch wirklich alle mitbekamen. Schwere Wolken hüllten den Berg Sinai ein und es donnerte und blitzte und irgendwo wurden Hörner geblasen. „Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt“, hieß es dazu und das war zweifellos beeindruckend. Sollte Gott aber gehofft haben, damit einen freundlichen Eindruck zu hinterlassen, hatte er sich getäuscht. Die Juden bekamen Angst und entfernten sich eilig vom umtosten Berg. Nur der tapfere Moses stieg erneut auf den Gipfel hinauf, von wo ihn Gott mit der Botschaft zurückschickte, dass wirklich niemand den Berg betreten dürfe. Moses versuchte ihn zwar noch zu überzeugen, dass diese Gefahr im Moment wirklich nicht besteht, aber vergeblich. Also stieg er herab und sprach die überflüssigste „Betreten verboten“-Warnung aus, die es geben kann, da das Volk ohnehin die Flucht ergriffen hatte.

Viel wichtiger als die Frage, wer nun alles zum Berg durfte oder nicht (Moses, sonst niemand), war aber, was Gott verkündete. Er hatte sich nämlich tiefgehende Gedanken gemacht und eine Art Verfassung in Form von zehn Geboten entwickelt. „Du sollt neben mir keine anderen Götter haben“, lautete das erste und offenbar wichtigste Gebot, während das zweite strenggenommen nur das erste ergänzte: „Du sollst den Namen des HERRN nicht missbrauchen, denn der HERR lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.“ Auch Gebot drei widmet sich der Rolle Gottes und erklärt Tag sieben zum Ruhetag, denn: „in sechs Tagen hat der HERR Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört.“

Mehr Massenpanik als Volksfest

Erst danach folgten die Gebote, die das Zusammenleben der Menschen regeln sollen. In Gebot vier heißt es: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt“, bevor eine Reihe von äußerst knappen Geboten folgen: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht die Ehe brechen“, „Du sollst nicht stehlen“, „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ und „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren.“ Gebot zehn ist dann wieder länger: „Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendwas, das deinem Nächsten gehört.“ Gott hätte es eigentlich auch auf den letzten Teil „du sollst nicht begehren, was deinem Nächsten gehört“ reduzieren können, entschied sich aber dafür, lieber davor noch eine willkürliche Auflistung vorzunehmen.

Während dieser berühmteste Gesetzestext der Weltgeschichte verkündet wurde, lag der Berg weiterhin unter schweren Gewitterwolken. Immer wieder bekam deswegen „das Volk Angst und zitterte“ und hielt weiter Abstand zum Ort des Geschehens. Man darf sich diesen großen Moment also nicht wie eine Feierstunde vorstellen, bei der alle ergriffen zu Gott hinaufblickten, sondern eher wie eine Massenpanik, bei der die Menschen sich in Sicherheit brachten.

Neben den Zehn Geboten hatte sich Gott auch Gedanken über ein biblisches Straf- und Zivilrecht gemacht, das er nun ebenfalls verkündete. Dieses legte unter anderem fest: „Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, hat den Tod verdient.“ Moses ist bei diesen Worten vermutlich zusammengezuckt und dachte an jenen fernen Tag, an dem er den ägyptischen Soldaten erschlagen hatte. Sterben muss auch, wer einen Menschen entführt, wer Sex mit Tieren hat oder eine Hexe ist. Gott ging aber auch in die lebenswirklichen Details hinein: Wenn zwei Männer streiten und einer verletzt den anderen nicht tödlich, doch immerhin schwer genug, dass dieser sich im Bett erholen muss, ist der Schläger freizusprechen. Aber: Er muss für die Behandlungskosten aufkommen und für den Arbeitsausfall des Geschädigten.

Die Tiefe der Nacht entscheidet über die Schwere der Tat

Insgesamt hält Gott viel von einer gleichwertigen Bestrafung von Taten, wobei er die berühmten Worte „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ spricht oder genauer gesagt: „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Striemen für Striemen.“ Eigentlich eine gerechte Lösung, die aber nicht für Sklaven gilt. Wenn man einem Sklaven ein Auge ausschlägt, muss man selbst kein Auge verlieren, sondern den Sklaven freilassen. Das gleiche gilt auch für einen ausgeschlagenen Zahn. Wobei man sicherlich lieber zum Gegenwert eines Zahns freikommen würde als zu dem eines erblindeten Auges.

Wer einen Einbrecher in der Nacht erschlägt, kommt ohne Strafe davon. Wenn es aber schon gedämmert hat, handelt es sich um eine Blutschuld. Warum die Tageszeit über die Schwere einer Tat entscheidet, wird von Gott dabei nicht weiter begründet. Wenn ein Dieb gefasst wird und sein Diebesgut nicht erstatten kann, wird er zum Gegenwert des Gestohlenen in die Sklaverei verkauft. Wenn er nur einen Apfel gestohlen hat, wird er eben zum Preis eines Apfels in die Unfreiheit gehen und hätte damit vermutlich schon den Spottnamen für sein restliches geknechtetes Leben weg.

Und nun wird es ganz bitter für das liebe Vieh: Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau „so stößt, dass der Betreffende stirbt“, muss es gesteinigt werden, aber der Besitzer des Viehs bleibt ansonsten frei von Strafe. Außer, wenn es sich nicht um den ersten Vorfall mit dem Rind handelte, sondern nur um den ersten mit tödlichem Ausgang. Dann wird das Rind gesteinigt und der Besitzer „muss sterben“ – vermutlich auf die gleiche Weise, wenn man wegen des Rinds ohnehin schon die Steine dabei hatte.

Gott ließ Moses auch wissen: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen.“ Das sind schöne Worte, gesprochen knapp zwei Wochen nachdem Gott selbst die Juden angestiftet hat, vor ihrem Auszug noch rasch ihre Nachbarn zu bestehlen: „Sie erbaten von den Ägyptern Geräte aus Silber und Gold und auch Gewänder. Der HERR ließ sie bei den Ägyptern Gunst finden, sodass sie auf ihre Bitte eingingen. Auf diese Weise plünderten sie die Ägypter aus.“

Auch soll gelten: „Dem Feind ist entlaufenes Rind zurückzubringen und zu retten.“ Womit es schon lange vor Jesus eine Nächsten- und sogar Feindesliebe gab. Gott wird am Berg Sinai aber nicht zum Pazifisten. Im Gegenteil erklärt er Moses, dass er die Amoriter, Perisiter Kanaaniter, Hiwiter und Jebusiter „vernichten“ werde, die noch im Land leben, das er für sein Volk ausgesucht hat und zu dem die Israeliten gerade unterwegs sind.

Moses stieg erneut vom Berg hinab und „übermittelte dem Volk alle Worte und Rechtssatzungen des HERRN.“ Vielleicht wird hierbei auch die Begabung deutlich, wegen der ihn Gott für die Rolle des Sklavenbefreiers ausgewählt hatte: ein offenbar phänomenales Gedächtnis, das es ihm ermöglichte, Gottes Worte vollständig wiederzugeben! Das Volk, das sich mittlerweile wieder etwas beruhigt hatte, stimmte den Regeln zu und zur Feier des Tages wurde ein Stier geopfert. Moses übergoss mit der Hälfte des Tierblutes einen Altar und besprengte mit der anderen Hälfte das Volk, während er rief: „Das ist das Blut des Bundes, den der HERR aufgrund all dieser Worte mit euch schließt!“ Am Ende war alles voller Blut. Der Altar und die Menschen.

Essen zu Füßen Gottes

Im Anschluss daran stieg Moses erneut hinauf auf den Berg, aber dieses Mal – und mit ausdrücklicher Erlaubnis des Herrn – nicht allein, sondern mit dreiundsiebzig „Ältesten Israels“, zu denen auch sein Bruder Aaron gehörte. Sie müssen in ihren blutüberströmten Kleidern einen schauerlichen Anblick geboten haben, als sie vor Gott standen. „Die Fläche unter seinen Füßen war wie mit blauen Edelsteinen ausgelegt und glänzte hell wie der Himmel selbst“, heißt es dazu, wobei die Juden ihre Angst offenbar abgelegt hatten, denn „sie aßen und tranken“ in Gegenwart Gottes, was für eine eher gelöste Stimmung spricht.

Nach dieser Begegnung bat Gott Moses, noch weiter hinauf auf den Berg zu steigen. Er war nämlich weiterhin fleißig gewesen und erklärte nun: „Ich will dir die Steintafeln übergeben, die Weisung und das Gebot, die ich darauf geschrieben habe, um sie zu unterweisen.“ Dieser Aufenthalt auf dem Gipfel sollte nicht weniger als vierzig Tage und vierzig Nächte dauern und mit einer bösen Überraschung enden.

(Fortsetzung folgt…)