Mordechai brach vor Verzweiflung zusammen, als er erfuhr, was sein kleiner Streit mit Haman für ein Vernichtungsprojekt ausgelöst hatte. Er zerriss seine Kleider, hüllte sich in Sack und Asche und „erhob ein lautes und bitteres Klagegeschrei“. Vor allem aber versuchte er zu verstehen, was da gerade passierte und so sprach er zu Gott: „Du weißt, Herr, dass es weder aus Hochmut noch aus Überheblichkeit noch aus Ruhmsucht geschah, wenn ich mich vor dem überheblichen Haman nicht niedergeworfen habe.“ Er flehte den HERRN an, den Juden in dieser Situation zu helfen, wobei er nicht ungeschickt darauf hinwies, dass nur der Glaube an Gott sein Volk in diese lebensgefährliche Situation gebracht hatte, denn: „Ich habe so gehandelt, weil ich nicht die Ehre eines Menschen über die Ehre Gottes stellen wollte.“ Auch appelliert er an die lange Geschichte, die den HERRN und sein Volk nun schon verbindet und meinte: „Übersieh dein Erbteil nicht, das du dir von den Ägyptern losgekauft hast.“ Wobei „losgekauft“ doch ein recht schmeichelhaftes Wort dafür ist, dass Gott schlichtweg jeden Erstgeborenen der Ägypter (und ihres Viehs) tötete, um so endlich den Widerstand des Pharaos zu brechen, der sich bis dahin allen Auswanderungsplänen des Moses widersetzt hatte.
Mordechai eilte aber auch zu Ester, kam jedoch nicht zu ihr durch, da er im Trauergewand den Palast nicht betreten durfte. Da er sich aber auch nicht umziehen wollte, musste ein Gespräch, das über die Zukunft des Judentums entschied, über einen Diener laufen, der zwischen Ester und Mordechai hin und her eilte. Mordechai forderte, dass Ester zum König geht und ihn bitten soll, den Vernichtungsbefehl zurückzunehmen. Das geht nicht, ließ sie ihn über den Diener antworten, weil niemand ungefragt zum Herrscher dürfte und auch sie selbst ihn schon seit dreißig Tagen nicht gesehen habe. Wer ungefragt vor ihn trete, werde hingerichtet. Danach fing Mordechai an, auf Esters Abstammung anzuspielen, obwohl er selbst es war, der ihr geraten hatte, das nie zu erwähnen. Nun jedoch ließ er den Diener überbringen: „Glaube ja nicht, nur weil du im Königspalast lebst, könntest du dich als Einzige von allen Juden retten.“ Damit hatte er das eine Wort ausgesprochen, das er während der Suche nach einer neuen Ehefrau des Königs zum Tabu erklärt hatte. Nun gab Ester nach und versprach, doch ungefragt zum König zu gehen. „Wenn ich umkomme, komme ich eben um“, schob sie halb lakonisch nach. Damit endete das Gespräch, das etwas umständlich über einen Dritten stattfand, weil Mordechai zwar praktisch alles tun würde, „wenn es für die Rettung Israels von Nutzen wäre“, aber seine persönliche Grenze erstaunlicherweise da zog, wo er ein Gewand hätte anziehen müssen, um die Königin im Palast besuchen zu dürfen.
Gott schickte Ester einen Kreislaufzusammenbruch
Bevor Ester sich auf diesen schicksalhaften Besuch aufmachte, der die schon sämtlich zum Tode verurteilten Juden womöglich noch retten könnte, bettete Mordechai zu Gott, dass er sein Volk verschont. Auch Ester wendete sich an Gott, wobei sie dafür ihre Gewänder gegen die „Kleider der Notzeit“ wechselte, ihr Haupt mit Staub und Asche bedeckte und ihren Schmuck ablegte: „Mein Herr, unser König, du bist der Einzige. Hilf mir!“, begann sie in der Einsamkeit ihres Palastes „denn ich bin hier einzig und allein und habe keinen Helfer außer dir; die Gefahr steht greifbar vor mir.“ Damit ähnelt ihre Situation auf frappierende Weise der jener anderen weiblichen Heldin Judit, die inmitten des feindlichen Feldlagers ebenfalls „einzig und allein“ war und von keinem Menschen Hilfe erwarten konnte, wenn ihr Plan scheitert. Sie fuhr damit fort, die Demütigungen, die Gewalt und die Schikanen zu benennen, die die Israeliten seit der Vertreibung aus dem gelobten Land ertragen mussten, um abschließend zu warnen: „Jetzt aber ist es unseren Feinden nicht mehr genug, uns grausam zu unterjochen.“
Wobei es sicherlich glaubwürdigere Zeugen dafür gab, unterjocht zu sein, als die Königin Persiens, die in einem eigenen Palast lebte. Letztlich warnte sie Gott, was er alles zu verlieren droht, wenn die Vernichtung der Juden wie geplant stattfinden wird. Es würde darauf hinauslaufen, „den Mund derer, die dich loben, verstummen zu lassen.“ In diesem Gebet kam auch heraus, dass Ester offenbar eine sehr unglückliche Frau war, denn sie bekannte, „du weißt auch, dass ich den Prunkt der Heiden hasse und das Bett eines Unbeschnittenen und Fremden verabscheue“, womit sie ihren Gatten Artaxerxes meinte, der damit einmal mehr seine Fähigkeit bewies, Menschen nicht durchschauen zu können. Sie bat Gott, dass er ihr „in Gegenwart des Löwen die passenden Worte in den Mund“ legt, wobei mit diesem Raubtier wiederum Artaxerxes gemeint war.
Danach zog sie ihre Prunkgewänder an und gab sich Mühe mit ihrem Aussehen, bis sie „in blühender Schönheit strahlte“ und „ihr Gesicht bezaubernd und heiter war.“ So ging sie zum König, doch „ihr Herz war beklommen vor Furcht.“ Zwar gelang ihr sogleich ein wichtiger Etappensieg, als sie der König zwar erstaunt musterte, aber nicht für die Unverfrorenheit umbrachte, unaufgefordert zu ihm gekommen zu sein. Gleichzeitig aber sendete ihr Gott nicht die erhofften Worte „in Gegenwart des Löwen“, sondern, wenn überhaupt, einen Kreislaufzusammenbruch. Sie sackte zusammen und als sie wieder zu sich kam, hatte der König sie in den Arm genommen und versuchte sie mit den womöglich am wenigsten tröstenden Worten der antiken Welt zu beruhigen: „Sei unbesorgt, du wirst nicht sterben; denn unser Befehl gilt nur für die anderen.“
Damit wird klar, dass er zwischenzeitlich erfahren haben muss. Erneut kollabierte Ester und als sie dieses Mal erwachte, versprach der König ihr, einen Wunsch zu erfüllen. „Auch wenn es die Hälfte meines Reichs wäre, du sollst es erhalten“, legte er nach und Ester bat nicht etwa nach dem naheliegenden, nämlich der Verschonung der Juden, sondern nach einem Festmahl. Nur mit dem König und Haman, dem Verantwortlichen für die drohende Vernichtung. Der Monarch kam diesem Wunsch natürlich nach, woraufhin noch am selben Tag diese sehr exklusive Veranstaltung mit drei Teilnehmern stattfand. „Als sie beim Wein saßen, sagte der König zu Ester: Was hast du für eine Bitte? Sie wird dir erfüllt?“ und wieder bat sie nicht „verschone mein Volk“, sondern bat um ein weiteres Fest am nächsten Abend, was ihr ebenfalls gewährt wurde.
Wer anderen einen Galgen baut…
Was Ester nicht wissen konnte und was darum auch nicht Teil eines raffinierten Plans ihrerseits gewesen sein kann, sind die Rückschläge und Demütigungen, die Haman zwischen diesen beiden Veranstaltungen erlebte. Sein wahnhafter Zorn auf Mordechai hatte sich neu entflammt, als er ihm zufällig am Palast begegnet war und so wütete er bei sich zu Hause und ließ auf Anraten seiner Frau hin einen Galgen errichten. An diesem sollte Mordechai morgen erhängt werden, nachdem Haman dem König einen Vorwand einreden würde, warum das nötig ist. Es reichte ihm also nicht mehr, dass Mordechai bald mitsamt aller anderen Juden getötet werden sollte, er wollte ihn jetzt sofort tot sehen. Doch nun geschah etwas Unerwartetes. Während Haman den Galgen bauen ließ, lag zeitgleich der König schlaflos wach in seinem Bett und ließ sich aus dem „Buch der Denkwürdigkeiten“ vorlesen, das alles enthielt, was während seiner Regentschaft Erwähnenswertes passiert war. Eine der Geschichte behandelte die Aufdeckung der Eunuchen-Verschwörung durch Mordechai und dem König fiel plötzlich nicht mehr ein, was eigentlich die Belohnung für diese Tat gewesen war. Also fragte er seine Diener: „Welche Belohnung und Auszeichnung hat Mordechai dafür erhalten?“, die wiederum noch sehr genau wussten, was er erhalten hatte: „Er hatte nichts erhalten.“
Artaxerxes schien erst jetzt zu bemerken, dass das für einen vereitelten Anschlag auf sein Leben etwas wenig ist, weswegen er das sofort ändern wollte. Da traf es sich gut, dass in diesem Moment Haman eintraf, der dem König die morgige Hinrichtung Mordechais einreden wollte. Bevor er jedoch dazu kam, fragte ihn der König, wie die Ehrung für einen Menschen aussehen soll, der eine besondere Leistung vollbracht hat? Haman, frei von Selbstzweifeln, vermutete, dass es um eine Ehrung für ihn geht und schlug vor, dass man so jemanden in einem königlichen Gewand und auf einem königlichen Pferd über den belebtesten Platz der Stadt führen soll, während vor ihm jemand mitläuft und ausruft: „So geht es einem, den der König besonders ehren will.“ Die Idee gefiel Artaxerxes und erst jetzt begriff Haman, dass es nicht um ihn, sondern ausgerechnet Mordechai ging. Wie betäubt musste er die Anweisung des Königs mit anhören: „Tu alles, was du gesagt hast mit dem Juden Mordechai, der am Tor des Palastes sitzt! Und lass nichts von dem aus, was du vorgeschlagen hast.“
Und so musste Haman den Juden einkleiden und ihm aufs Pferd helfen, bevor er vor ihm durch die Straße lief und ausrief, dass es sich bei Mordechai um einen Mann handelt, der vom König besonders geehrt wird. Gedemütigt eilte er danach zu seinem Haus zurück, wo er seiner Frau und seinen Freunden – die in der Zwischenzeit den Galgen gebaut hatten – alles erzählte und begreifen musste, dass die Stimmung umgeschlagen war. Seine Frau fürchtete sogar, dass das alles so wirkt, als würde am Ende Haman selbst durch Mordechai „zu Fall kommen“ und nicht umgekehrt. Es blieb aber ohnehin kaum Zeit, all die sich überschlagenen Ereignisse zu besprechen, denn schon klopfte es an der Tür, weil die Abgesandten des Königs Haman zum Festmahl mit Ester mitnehmen wollten. Auf diesem Fest kam die Königin nun endlich auf ihren Wunsch zu sprechen, dass der König doch bitte die Juden verschont. Sie stellte dabei klar, dass sie nicht bei jeder Art von Strafe protestiert hätte. Ihre Leidensbereitschaft ging sogar erstaunlich weit, denn sie erklärte: „Wenn man uns als Sklaven oder Sklavinnen verkaufen würde, hätte ich nichts gesagt; denn dann gäbe es keinen Feind, der es wert wäre, dass man seinetwegen den König belästigt.“ Aber „auszurotten, hinzumorden und zu vernichten“ wäre eben doch eine absolute Grenzüberschreitung.
Artaxerxes stimmte ihr zu und wollte in Bezug auf den Feind, von dem Ester da gesprochen hatte, wissen, wen sie damit meint. „Wer ist der Mann? Wo ist der Mensch, der es wagt, so etwas tun?“ Ob er einfach vergessen hatte, dass er selbst diesen Vernichtungsbefehl mit seiner königlichen Autorität auf den Weg gebracht hatte, schien er offenbar völlig vergessen zu haben. Ester nutzte jedenfalls die Gunst des Augenblicks und rief aus: „Dieser gefährliche Feind ist der verbrecherische Haman hier!“ Haman bettelte und flehte daraufhin vor der Königin und als er merkte, dass er damit keinen Erfolg hatte, stürzte er sich auf Ester, was selbst im Rahmen seiner jetzt sehr reduzierten Möglichkeiten die schlechteste Idee war und ihn noch in der gleichen Nacht an den Galgen brachte. Übrigens an den, den er für Mordechai hatte anfertigen lassen. Sein Tod bedeutet umgekehrt, dass die Gefahr für die Juden gebannt war, da mit ihm zusammen auch sein Vernichtungsplan starb.
Der Triumph von Ester und Mordechai über den Mann, der wegen einer vermeintlichen Kränkung durch einen Juden das gesamte jüdische Volk ausrotten wollte, ging so weit, dass Artaxerxes ihnen sein Haus überließ und Mordechai den Siegelring ansteckte, den zuvor Haman getragen hatte. Auf diese Weise war die Gefahr erstmal gebannt, wobei für Ester weiterhin das Problem bestand, dass ihr Ehemann und König zu jenen „Unbeschnittenen“ gehörte, die sie im Grunde verabscheute. Würde sie also wie ihre Vorgängerin rebellieren, selbst wenn das den Verlust all ihrer Privilegien bedeuten könnte oder doch den Schein wahren und sich nichts anmerken lassen?
(Fortsetzung folgt…)