Nun geht es plötzlich Schlag auf Schlag. Hatten Frauen bisher nur als Randfiguren an den Geschehnissen Anteil, folgt jetzt auf die tollkühne Judit eine zweite Frau, deren Bedeutung sogar noch größer ist. Im Grunde ist Ester eine weitere der vielen Exil-Geschichten, die der Verlust des gelobten Landes mit sich gebracht hat. Wobei diese hier die vielleicht außergewöhnlichste von allen ist. Wie viele andere Juden, gelangte auch Ester als Gefangene des Nebukadnezzar (dem, der sich selbst als Gott sah) nach Persien. Da ihre Eltern nicht mehr lebten, kümmerte sich ihr Onkel Mordechai um sie. In Persien war es den Israeliten erlaubt, Teil der Gesellschaft zu werden, weswegen Mordechai am Hof des Königs arbeitete. In dieser Funktion deckte er eine Verschwörung gegen Artaxerxes, einen Nachfolger von Nebukadnezzar, auf, als er zwei Eunuchen des Königs belauschte, die Mordpläne schmiedeten.

Wobei Mordechai neben der Gesundheit des Königs noch etwas anderes beschäftigte, nämlich ein Traum, den er hatte und so lautete: „Es gab Geschrei und Lärm, Donner und Erdbeben und ein Tumult entstand auf der Erde. Plötzlich kamen zwei große Drachen, beide bereit zu kämpfen. Sie brüllten laut und durch ihr Brüllen wurden alle Völker zum Kampf aufgereizt, sodass sie gegen das Volk der Gerechten Krieg führten.“ Mit dem Volk der Gerechten meinte er in aller Bescheidenheit sein eigenes israelitisches, doch das war auch schon alles, was er in diesem Traum verstand. Der Traum ging so weiter, dass das Volk der Gerechten seinen Untergang fürchtet und zu Gott schreit und seine Schreie zu Wasser werden, woraufhin wieder Licht und Sonne scheinen und es letztlich heißt: „Die Niedrigen wurden erhöht und sie vernichteten die Angesehenen.“ Mordechai grübelte lange, was Gott ihm durch diesen Traum mitteilen wollte, kam aber lange nicht darauf.

Seine Aufmerksamkeit wurde bald darauf ohnehin von etwas anderem beansprucht. „Seine“ Tochter Ester wurde in den königlichen Palast geladen, weil Artaxerxes eine neue Frau an seiner Seite suchte. Die bisherige Königin Waschtis war allerdings nicht gestorben, sondern hatte stattdessen eine nationale Krise ausgelöst, weil Artaxerxes sie auf einem fröhlichen Fest aufforderte, sich den Anwesenden zu zeigen, „damit das Volk und die Fürsten ihre Schönheit bewunderten.“ Ob sie es als erniedrigend empfand, ob sie sich einfach nicht wohlfühlte oder ob sie den König bewusst bloßstellen wollte, ist nicht bekannt. Jedenfalls sorgte ihr Nein für Schockwellen, die das Fundament der persischen Gesellschaft zu erschüttern drohten.

Der König kämpft dafür, dass der Mann das Sagen im Haus hat

Zumindest fürchteten das die Berater des Königs, die klarstellten, dass Artaxerxes auf diese „Befehlsverweigerung“ mit Härte reagieren muss. Die Begründung war entsprechend alarmierend und warnte vor dem Verfall von Sitte und Ordnung, wenn eine Frau Nein sagt und damit durchkommt: „Die Königin Waschti hat sich nicht allein an dem König verfehlt, sondern auch an allen Fürsten und an allen Völkern in allen Provinzen des Königs Artaxerxes. Denn es wird diese Tat der Königin allen Frauen bekannt werden, sodass sie ihre Männer verachten und sagen: Der König Artaxerxes gebot der Königin Waschti, vor ihn zu kommen; aber sie wollte nicht. Dann werden die Fürstinnen in Persien und Medien auch so sagen zu allen Fürsten des Königs, wenn sie von dieser Tat der Königin hören; und es wird Verachtung und Zorn genug geben.“

Letztlich fürchteten die Berater, dass dieser Akt emanzipatorischer Sturheit Schule macht und die Frauen am Ende noch den Eindruck gewinnen, dass sie insgesamt mehr von allem erwarten dürfen: Rechte, Respekt und Selbststimmung. Offenbar war die Angst vor zu viel weiblicher Autonomie so groß, dass Artaxerxes in alle Provinzen des Landes einen „königlichen Erlass“ mit der Klarstellung verschickte, dass „jeder Mann in seinem Hause herrsche“. Die königlichen Berater waren darüber sehr erleichtert, denn: „Wenn die Anordnung, die der König erlässt, in seinem ganzen großen Reich bekannt wird, dann werden alle Frauen ihre Ehemänner, den vornehmsten wie den geringsten, die gebührende Achtung erweisen.“

Waschti wurde also verstoßen, wodurch sich das Leben von Ester für immer verändern sollte. Was nun nämlich folgte, war das größte Schaulaufen der antiken Welt. Es galt, dem König eine neue Gemahlin zu suchen und so schwärmten seine Männer aus, um im ganzen Reich nach schönen Frauen zu suchen, die als Kandidatinnen infrage kamen. Offenbar gingen sie ausschließlich nach dem Aussehen der Frauen, denn es werden keine weiteren Fähigkeiten genannt, die bei der Suche von Bedeutung waren. Auch Ester fiel den Männern auf und sie kam zu den anderen Kandidatinnen in den Frauenpalast des königlichen Hofes. Dort erhielten sie alle eine gründliche Schönheitspflege, zu der Myrrhenöl und Balsam gehörten, sowie „andere Schönheitsmittel der Frauen“. Wobei „gründliche Schönheitspflege“ wortwörtlich stimmte, denn diese Vorbereitungen dauerten ein ganzes Jahr, bevor die Frauen nacheinander vor den König geführt wurden.

Ester war es schließlich, die seine „Gunst und Zuneigung gewann“, woraufhin er ihr das Diadem aufsetzte und sie zur neuen Königin machte. Damit herrschte eine Jüdin an der Seite des mächtigsten Königs der Welt…oder auch nicht. Oder zumindest nicht offiziell. Ester hatte ihrem Gemahl nämlich verschwiegen, dass sie jüdisch ist. Auf den Rat Mordechais hin, hatte sie „nichts von ihrem Volk und ihrer Abstammung erzählt.“ Mordechai selbst musste nach der Krönung Esters das Gefühl haben, dass sich alles wiederholt, denn er belauschte erneut zwei Eunuchen des Königs, die ihren Monarchen ermorden wollten. Wieder verriet er den Plan und die beiden Männer wurden hingerichtet, aber offenbar hatte Artaxerxes keine sonderlich guten Menschenkenntnisse, wenn er allein vier Eunuchen in Dienst gestellt hatte, die ihn allesamt töten wollten, während er zugleich eine Frau zu seiner Königin machte, die ihn erfolgreich über ihre wahre Identität im Unklaren ließ. Ester selbst sollte aber schon sehr bald eine Situation kommen, in der sie alles riskieren muss, um sich und das jüdische Volk zu retten.

(Fortsetzung folgt…)