Ein weiterer Pionier, der die Wiederbelebung jüdischen Lebens in Kanaan vorantrieb, hieß Nehemia. Wo der Prophet Esra vor allem die theologische Rückbesinnung im Auge hatte, ging es Nehemia um das ganz irdische. Um Steine, Mauern, Türme und Häuser. Er wollte Jerusalem wieder aufbauen. Dabei gab er ein durchaus privilegiertes Leben am Hofe des persischen Königs auf. Er wurde nun zwar kein weiterer Josef, der in Ägypter die Nummer zwei im Reich war, aber immerhin schaffe er es zum Mundschenken und war dadurch für die Versorgung des Herrschers mit Getränken zuständig. Eines Tages berichteten ihm Reisende, unter was für schlimmen Bedingungen die wenigen Israeliten lebten, die noch im Heiligen Land verblieben waren. Sie lebten „dort in der Provinz in großer Not und Schmach. Die Stadtmauer von Jerusalem ist niedergelegt und seine Tore sind im Feuer verbrannt.“
Dieser Lagebericht erschütterte Nehemia so sehr, dass er tagelang trauerte und offenbar so mitgenommen aussah, dass der König selbst sich erkundigte, was mit ihm los sei. Nehemia erzählte, wie sehr ihn der Verfall des einstigen judäischen Reichs erschütterte und so gab ihm König Artaxerxes die Erlaubnis, in die Heimat seiner Vorfahren zu reisen, um sie wieder aufzubauen. Der fremde Herrscher hatte offenbar genug Sympathie für die Israeliten, dass er seinem Mundschenk ein Schreiben mitgab, das den persischen Statthalter sowie den Verwalter der königlichen Wälder in Juda aufforderte, Nehemia zu unterstützen. Dass er diesen Brief erbat und bekam, machte den Unterschied zwischen Erfolg oder Niederlage des Aufbauplans aus. Ohne ein königliches Schreiben hätte ihm nämlich niemand aus der Verwaltung geholfen, denn „es verdross sie sehr, dass da ein Mann kam, der sich für das Wohl der Israeliten einsetzte.“
Drohbriefe, Belästigungen, Beleidigungen und sieben Mordversuche können Nehemia nicht aufhalten
Unbeeindruckt von dieser Feindseligkeit machte Nehemia sich daran, den Wiederaufbau Jerusalems zu organisieren, wobei er mit pragmatischer Nüchternheit an die Sache heranging: „Jerusalem liegt in Trümmern und seine Tore sind im Feuer verbrannt. Gehen wir daran und bauen wir die Mauer Jerusalems wieder auf!“ Und das tat er dann auch. Gemeinsam mit weiteren Israeliten, die sich ebenfalls um das Erstarken jüdischen Lebens bemühten, wurde die Stadtmauer wieder errichtet. Es war im wahrsten Sinne die Leistung vieler Hände, die sich alle nur um einen kleinen Teil des Baus kümmerten, wodurch die Mauer aber schneller an vielen Orten zugleich in die Höhe wuchs.
Ein typischer Blick auf die Baustelle sah darum so aus: „(…) Dahinter arbeiteten Benjamin und Haschub gegenüber ihrem Haus und hinter ihnen arbeitete Asarja, der Sohn Maasejas, des Sohnes Ananejas, neben seinem Haus. Dahinter arbeitete Binnui, der Sohn Henadas, an der Instandsetzung des anschließenden Stückes, vom Haus des Asarja bis zum Winkel und weiter bis zur Ecke (…)“, wo dann wieder jemand anderes ein Teilstück vollendete. Die Stadtmauer als Art Nachbarschaftsprojekt.
Der persische Statthalter, dem Nehemias Ankunft ohnehin ein Dorn im Auge war, und der die Juden verachtete, versuchte die Vollendung der Mauer mit allen Mittel zu verhindern. Er ging so weit, einen Angriff vorzubereiten, denn so „metzeln wir sie nieder und machen dem Unternehmen ein Ende“. Letztlich wurde sein mörderischer Plan verraten, doch durch die nun notwendigen Sicherheitsmaßnahmen verzögerte er immerhin die Fertigstellung, da nur noch die Hälfte der Israeliten an der Mauer arbeiten konnte, während die andere die Bauarbeiten bewachen musste. Aber auch die Arbeiter selbst konnten wortwörtlich nur noch mit einer Hand arbeiten, denn sie „taten mit der einen Hand ihre Arbeit, in der anderen hielten sie den Wurfspieß.“ Wer keinen Wurfspieß bei sich trug, hatte „ein Schwert um die Hüfte gegürtet.“
All das machte es sicherlich nicht einfacher, die Mauer zu vollenden und doch ging es weiter voran. Die Sabotageversuche hörten jedoch nicht auf und konzentrierten sich zunehmend auf Nehemia als treibende Kraft der jüdischen Erneuerung. Er erhielt Drohbriefe, wurde belästigt, beleidigt und bedrängt und es gab nicht weniger als sechs Versuche, ihn zu ermorden. Doch nichts davon konnte ihn aufhalten und so mussten seine Gegner mit ansehen, wie die Mauer mitsamt den Verteidigungsanlagen fertiggestellt wurde und es daran ging, die Stadt selbst wieder mit Leben zu füllen. Darin bestand die eigentliche Herausforderung, denn: „Nun war die Stadt weit ausgedehnt und groß; es war aber wenig Volk darin und es gab nicht viele Häuser, die wieder aufgebaut waren.“ Es wurde durchgezählt, wie viele Israeliten im Land leben, wobei die überschaubare Zahl von 42.360 Personen herauskam, die übrigens über 435 Kamele und 6720 Esel verfügten.
Durch ein Machtwort werden alle Israeliten schuldenfrei
Mit dem Versprechen Gottes, die Nachfahren Abrahams „so zahlreich wie der Sand am Meer“ zu machen, hatte diese Gemeinschaft nichts zu tun, aber immerhin war sie ein Anfang. Wer in Jerusalem leben würde, wurde jetzt auf eine überraschende Weise festgelegt, indem das Los darüber entschied. Jeder zehnte Israelit zog daraufhin nach Jerusalem und „neun Zehntel blieben in den Landesstädten“. Wobei sich zugleich auch „die Obersten des Volkes“ im neu erblühenden Jerusalem niederließen.
Nehemia kümmerte sich nicht nur um die Mauer, sondern auch um den Umgang der Israeliten miteinander. So empörte es ihn, dass viele Juden bei anderen Juden verschuldet waren und verlangte, dass diese Schulden erlassen werden. Da er offenbar sehr energisch und einschüchternd reden konnte, stimmten alle zu und schon waren die Armen ihre Last los und Israel wieder ein kleines Stück gottesfürchtiger. Zumindest empfand es Nehemia so, der seine Schuldenschnitt-Rede mit einer ungewöhnlichen Geste beendete: „Dann schüttelte ich den Bausch meines Gewandes aus und sagte: Genauso schüttle Gott jeden, der diese Zusage nicht hält, aus seinem Haus und seinem Eigentum; er sei ebenso ausgeschüttet und leer.“
Ob es wirklich beeindruckend aussah, als er vor der versammelten Gemeinschaft mit seinem Gewand wedelte, als würde er einen Teppich ausschütteln, wird man allerdings nie erfahren. Doch letztlich bekam er, was er wollte und die verarmten Juden mussten nichts mehr an ihre reichen Glaubensbrüder zahlen, so wie ihnen nun die Weinberge, Felder und Häuser gehörten, die sie zuvor aus finanzieller Not heraus an sie verkaufen mussten und seitdem für die weitere Nutzung Geld zu zahlen hatten.
Nehemia selbst verzichtete auf jedes Gehalt und investierte umgekehrt sogar sein eigenes Geld, um den Wiederaufbau Jerusalems zu fördern. Wobei er darauf achtete, dass seine noblen Taten von den richtigen bemerkt werden. Genaugenommen von dem einen richtigen, denn er betete zu ihm: „Denk daran, mein Gott, und lass mir all das zugutekommen, was ich für dieses Volk getan habe!“ Er machte das übrigens nicht nur in Bezug auf seinen Gehaltsverzicht. Eigentlich tat er nichts Gutes, ohne Gott jedes Mal auf seine aktuelle gute Tat hinzuweisen. Egal, ob er die Bezahlung der Tempeldiener sicherstellte, die Sabbatruhe durchsetzte, Mischehen verbot oder auch nur Brennholz sammelte. Stets vergaß er nicht, an höhere Stelle an seine vollbrachte Leistung zu erinnern: „Denk dran, mein Gott, und halt es mir zugute.“
Für ihn war zugleich immer klar gewesen, dass jüdisches Leben nur gelingen kann, wenn zugleich der Bund mit Gott wieder ernst genommen wird. Dafür tat er sich mit dem anderen großen Pionier seiner Zeit zusammen, dem Propheten Esra. In einer Art Frontalunterricht erläuterte dieser dem Volk, wie es so weit kommen konnten, dass es heute in halben Ruinen hauste, obwohl der HERR ihren Vorfahren etwas ganz anderes versprochen hatte. Er erinnerte an die Wunder, die Gott für die Israeliten getan hatte, um sie aus Ägypten zu befreien, an all das Gute und Großzügige, das den Israeliten widerfuhr, wobei er ausrief: „Vierzig Jahre hast du für sie in der Wüste gesorgt!“ Das stimmt. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass die Reise nur wegen ihm vierzig Jahre gedauert hatte. Letztlich kippt diese Aufzählung der Güte Gottes aber ohnehin bald, indem Esra nun vom Abfall der Israeliten berichtet.
Mit „sie aßen sich satt, wurden fett und lebten gut von deinen reichen Gaben“, leitete er diese Anklage ein, die mit Vorwürfen wie diesem weiterging: „Dann aber wurden sie trotzig; sie empörten sich gegen dich und kehrten deinen Weisungen den Rücken“, bevor er zur Erkenntnis kam: „Darum sind wir heute Knechte“. Umgekehrt war klar, was passieren muss, damit das Leben als Knecht vorbeigeht: Die Weisungen befolgen. Darauf legten Esra und Nehemia viel Wert.
Beide waren von ihrer Mission überzeugt und mit dieser Überzeugungskraft, ihrer Autorität und Kompromisslosigkeit gelang es ihnen, die frommste israelitische Bevölkerung zu schaffen, die es bis dahin im gelobten Land gegeben hatte. Plötzlich wurde das Laubhüttenfest gefeiert, was zuletzt unter Josua der Fall gewesen war. Also dem Nachfolger Moses, als die Israeliten nach ihrer Wanderung aus Ägypten endlich am Ziel angekommen waren. Weder König David noch König Salomo hatten diese Tradition bewahrt, die nun das schwache und in Not lebende Volk wiederaufnahm, das kein eigenständiges Königreich mehr besaß.
Der Wiederaufbau ist eine Erfolgsgeschichte, aber es gibt noch viel zu tun
Die Israeliten zogen Büßergewänder an und bedeckten ihr Haupt mit Staub, es wurden Sünden bekannt und Gott gepriesen. Es war eine große Erweckungsbewegung beziehungsweise Bewegung zurück zu den Wurzeln des eigenen Volkes. Verfehlungen der Väter wurden beklagt und die eigenen und immer wieder die Herrlichkeit Gottes betont, der hoffentlich in seiner Güte bereit sei, sein so tief gefallenes Volk nicht zu vergessen. All die Bemühungen gingen sogar so weit, dass die Israeliten sich „unter Eid und Schwur“ verpflichteten, „die Weisung Gottes zu befolgen, die durch Mose, den Diener Gottes, gegeben wurde, und alle Gebote des HERRN, unseres Herrn, seine Rechtsentscheide zu bewahren und zu erfüllen.“
Das erste Opfer dieses neuen Glaubenseifers war der recht unbefangene Umgang mit anderen Völkern im Land, denn die Israeliten lösten reihenweise Freundschaften mit Nichtisraeliten auf. Nehemia stellte außerdem fest: „Wir werden unsere Töchter nicht den Völkern im Land zur Frau geben, noch ihre Töchter für unsere Söhne nehmen.“ Sollte weiterhin auch der interne Bann gelten, dass die anderen israelitischen Stämme keine Frauen des Stammes Benjamin nehmen dürften, schränkten diese Regeln den Heiratsmarkt dramatisch ein. Doch insgesamt stellten sich die Jahre des Nehemia als ausgesprochen erfolgreich heraus. Unter seiner Führung hatten sich die Israeliten organisiert, hatten Jerusalem wieder aufgebaut, den Glauben ihrer Vorväter wiederentdeckt und mit der erneuten Besiedlung begonnen.
Allerdings gab es weiterhin viele Gefahren und dieses zarte Pflänzchen an religiösem und kulturellem Selbstbewusstsein konnte jederzeit von diversen Gegnern gefährdet werden. Schließlich war Juda weiterhin eine Provinz des persischen Reichs und die Israeliten von Völkern umgeben, die ihnen misstrauten, wobei das Verbot von Mischehen sicherlich das Verhältnis nicht verbessert hatte. Doch Nehemia konnte zufrieden sein. Wenn nun Reisende einem Juden in Persien vom Zustand in Juda berichten würde, müsste dieser nicht mehr hören: „sie leben dort in der Provinz in großer Not und Schmach. Die Stadtmauer von Jerusalem ist niedergelegt und seine Tore sind im Feuer verbrannt.“ Die Stadtmauer stand wieder, ebenso die Tore und auch Not und Schmach waren weniger geworden. All diese Entwicklungen hatten maßgeblich mit dem Wirken von Nehemia zu tun, der eine gute Stelle am Hofe des persischen Königshofes gegen das harte und gefährliche Leben eines Pioniers im verwüsteten Land Juda eingetauscht hatte…Und dabei nie vergaß, Gott auf all seine Verdienste hinzuweisen.
(Fortsetzung folgt…)