Auch wenn die Bundeslade zurück war, stand Israel weiterhin unter Fremdherrschaft der Philister und das nun schon seit zwanzig Jahren. Gründe dafür gab es einige und sie waren – wie eigentlich fast immer – selbst verschuldet, weil grundlegende Bundesvereinbarungen mit Gott nicht eingehalten wurden. Etwa das erste Gebot, dass es keine Götter neben dem HERRN geben darf. An diese Abmachung wurde sich wohl nur noch sporadisch gehalten, weswegen Samuel das Volk ermahnen musste: „Schafft die fremden Götter mitsamt Astarten aus eurer Mitte fort.“ Tatsächlich bemühten sich die Israeliten danach, den Bund wieder ernst zu nehmen und zerstörten alle Kultgegenstände, die nicht der Verehrung des HERRN dienten.
In einem weiteren Schritt der Wiederannäherung berief Samuel eine Versammlung ein, die nach heutigen Maßstäben wohl die Ausmaße eines gigantischen Open-Air-Festivals hatte. Es war eine religiöse Erweckungsbewegung, die von hier ausgehend, das ganze Land ergriff – wobei es weder die erste noch die letzte sein sollte, die es in der israelitischen Geschichte gab. Die Feierstimmung wurde jedoch abrupt durch die Meldung gedämpft, dass den Philistern diese gewaltige Menschenansammlung nicht verborgen geblieben war. Sie hatten schon bei der Entführung der Bundeslade bewiesen, dass sie entschlossen und schnell handeln konnten und so zogen sie „gegen Israel heraus“, da sie wohl den Beginn eines Aufstandes vermuteten und damit auch nicht falsch lagen.
Als das Volk mitbekam, dass die Philister mit einer Armee anrückten, machte sich Unruhe breit, die bald in Panik umzuschlagen drohte. Doch Samuel behielt die Ruhe und opferte Gott so viele Tiere, dass dieser aufseiten seines Volkes eingriff und damit statt eines weiteren Massakers durch die Philister ein israelitischer Sieg stand. Nun flohen auf einmal die Philister und den Israeliten gelang unerwartet die Rückeroberung einiger Städte, die sie zuvor verloren hatten.
Samuel war ein ziemlich guter Richter und reiste unentwegt durchs Land, um Recht zu sprechen. Gott musste sich nie über ihn ärgern und nach der Rückeroberung der Städte erlebte Israel eine relativ friedliche Zeit. Doch als Samuel den Generationenwechsel einleiten wollte, begannen die Probleme. Er hatte vor, seine beiden Söhne ebenfalls als Richter einzusetzen. An dieser Stelle scheint sein Lebensweg auf beinahe irritierende Weise dem von Eli zu gleichen, seinem Mentor mit den beiden unfähigen Söhnen, wegen denen sein ganzes Haus verflucht wurde. Auch Samuels Söhne waren für ein solches Amt gänzlich ungeeignet. Sie waren korrupt, ignorierten das Recht und achteten stets auf ihren eigenen Vorteil.
Lieber keine Richter als solche Richter
Das Volk misstraute den beiden so sehr, dass es zu einer dramatischen Wendung kam. Bevor solche Leute das höchste Richteramt übernehmen, sollte es lieber gar kein Richteramt mehr geben, hieß es nun: „Darum setze jetzt einen König bei uns ein, der uns regieren soll“, lautete die Forderung im Volk. Lieber stürzten die Israeliten das ganze System, als diese beiden Nichtsnutze im höchsten Amt ertragen zu müssen. Wobei es den Wunsch nach einem König, „wie es bei allen Völkern der Fall ist“, ohnehin schon länger gab. Samuel missfiel diese Entwicklung zutiefst, weil er die Haltung Gottes zu einem König kannte. Dass es bislang keinen gab, lag nämlich daran, dass sich der HERR selbst als König dieses Volkes fühlte.
Tatsächlich reagierte er enttäuscht auf diesen Vorschlag und ließ Samuel in einem durchaus beleidigten Ton wissen: „Das entspricht ganz ihren Taten, die sie von dem Tag an, da ich sie von Ägypten heraufgeführt habe, bis zum heutigen Tag getan haben; sie haben mich verlassen und anderen Göttern gedient.“ Womöglich klang da auch eine gewisse Resignation heraus, denn Gott hatte es mit Gewalt und mit Güte versucht, er hatte Wunder und Plagen auf das Volk niedergehen lassen und sogar mit Simson einen wahren Superhelden mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, um den Bund mit den Israeliten auf ewig zu schließen.
Und doch fiel das Volk in regelmäßigen Abständen vom Glauben ab und träumte von einem irdischen König. In einem letzten Versuch, die Monarchie zu verhindern, mahnte Samuel an, dass ein Monarch über das Volk regieren könne, wie er wolle und schloss seine Warnungen mit der düsteren Voraussage ab: „Ihr werdet seine Sklaven sein.“ Doch nichts konnte die Leute umstimmen und so stellten sie unbeeindruckt klar: „Ein König soll über uns herrschen.“
Damit war die Königsfrage geklärt. Doch nun drängte sich eine andere Frage auf: Wer soll es werden? Wie so oft in der israelitischen Geschichte fiel die Wahl auf einen Außenseiter. Moses war der berühmteste Vertreter dieses Typus, zu dem sich jetzt auch ein junger Mann mit Namen Saul gesellte. Er überragte die meisten Menschen um einen ganzen Kopf und traf eines Tages auf Samuel, während er gerade auf der Suche nach einigen entlaufenen Eseln seiner Familie war. Saul konnte nicht wissen, dass Gott selbst für diese scheinbar zufällige Begegnung gesorgt hatte.
Wenn einem der Königstitel aufgedrängt wird
Samuel nahm den jungen Saul mit zu einem Fest und am nächsten Morgen bat er ihn zu einem Vieraugengespräch, in dessen Verlauf er ohne Vorwarnung Folgendes machte: „Da nahm Samuel den Ölkrug und goss Saul das Öl auf das Haupt, küsste ihn und sagte: Hiermit hat der HERR dich zum Fürsten über sein Erbe gesalbt.“ Viel mehr kann man einen anderen Menschen nicht überrumpeln und so wurde der lang ersehnte Monarch auf eine Weise ins Amt eingeführt, die für ihn im ersten Moment wohl nur schwer von einem Überfall zu unterscheiden war.
Es gibt allerdings ein paar ernsthafte Hinweise darauf, dass Saul kein König sein wollte. Da wäre etwa die schwer zu ignorierende Tatsache, dass er floh und sich versteckte, als die große Meldung bekannt gemacht wurde. Es war vielleicht das einzige Mal überhaupt, dass Gott sich gezwungen sah, das Versteck eines erwachsenen Mannes zu verraten.
Erst nach seinem „er hat sich beim Tross versteckt“, konnte man ihn finden und vor die aufgeregte Menge führen. Dort überragte er alle, was Samuel zur Bemerkung verführte: „Habt ihr gesehen, wen der HERR erwählt hat? Keiner ist ihm gleich im Volk!“ Damit bestand das einzige öffentlich verkündete Talent des Königs darin, einfach sehr groß zu sein. Und so jubelte das Volk eben seinem sehr großen König zu und freute sich, endlich einen eigenen Monarchen zu haben.
Zu Beginn seiner Regentschaft hielten sich Sauls Pflichten aber noch in engen Grenzen. Er arbeitete weiterhin auf den Feldern seiner Familie, wobei er sich immerhin nicht wieder versteckte. Seine erste Bewährungsprobe stand an, als die Ammoniter eine israelitische Stadt belagerten und sie nur verschonen wollten, wenn sie dafür jedem Einwohner ein Auge ausstechen dürfen. Verständlicherweise erbaten sich die Einwohner Bedenkzeit und schickten Boten zum König. Dieser hörte sich den Sachverhalt an und zur Überraschung aller, reagierte er sehr impulsiv und schlug seine zwei Rinder in Stücke, mit denen er gerade noch die Felder bestellt hatte.
Er ließ an jeden Stamm der Israeliten einen Teil der zerfetzten Tiere schicken und verband diese blutige Botschaft mit der Warnung, dass das mit den Rindern jener passieren wird, die sich dem Ruf zu den Waffen entziehen. Damit hatte er, ob beabsichtigt oder nicht, eine ganz ähnliche Methode gewählt wie jener Mann, dessen Frau von den Benjaminitern so schwer missbraucht wurde, dass sie an ihren Verletzungen starb, was einen Bürgerkrieg und fast die Ausrottung der Benjaminiter zur Folge gehabt hatte. Nur, dass der Schock über eine in zwölf Teile geschnittene Frau noch erheblich größer sein dürfte als der über zerfetztes Rind.
Ein Feind, besessen von Augen
Es stellte sich heraus, dass die Stämme lieber Soldaten verlieren wollten als ihr Vieh und so führte Saul bald darauf eine Armee von 330.000 Israeliten in die Schlacht. Dabei bestand seine größte strategische Leistung bis dahin in der erfolglosen Suche nach entlaufenen Eseln. Das sollte aber nichts am gewaltigen Sieg ändern, den die Israeliten davontrugen, während fast alle Ammoniter fielen. „Die übrig blieben, wurden zerstreut, sodass nicht einmal zwei von ihnen beieinander blieben.“ Na gut, man sollte vielleicht hinzufügen, dass am Anfang dieses glorreichen Erfolges eine Lüge stand, denn die Einwohner der belagerten Stadt wogen die Ammoniter in Sicherheit, indem sie kapitulierten und ankündigten: „Morgen werden wir zu euch hinauskommen. Dann könnt ihr mit uns machen, was euch gefällt“ Was im konkreten Fall bedeutet hätte: jeder Person ein Auge auszustechen.
Womöglich feierten die Ammoniter nach dieser Ankündigung die Nacht durch, jedenfalls stießen die Israeliten auf keinerlei Gegenwehr, als sie im Morgengrauen in das Feldlager schlichen und die zumeist wohl noch schlafenden und sicherlich betrunkenen Männer töteten. Aber dennoch, ein Sieg bleibt es auch so. Wenn auch keiner der glorreichen Sorte, die auf einem Schlachtfeld errungen wurde. Die Israeliten feierten ihren König und erinnerten sich nun daran, dass es bei der Krönung auch Kritiker gegeben hatte, die nichts von Saul hielten. Einen gefährlichen Moment lang empfanden es einige Israeliten als ihre heilige Pflicht, diese Kritiker zu suchen und zu erschlagen, doch der König beruhigte die Gemüter wieder und so starb an diesem Tag kein Saul-Kritiker auf der Siegesfeier. Auch wenn Sauls Regentschaft damit eindrucksvoll begann, sollte sie insgesamt eher unglücklich Verlaufen und schon nach nur zwei Jahren ihr Ende finden, wobei er selbst die Hauptverantwortung dafür trug. Zuerst einmal aber ging es mit den erfolgreichen Kriegen weiter und der König stellte sich gegen die größte Bedrohung, nämlich die Philister.
Für diese war Saul schlicht ein Rebellenanführer. Der Kampf um die Freiheit begann mit einem Attentat. Sauls Sohn Jonathan tötete dabei einen Statthalter der Philister, woraufhin diese mit einem „Heer, so zahlreich wie der Sand am Ufer des Meeres“ vorrückten, zu dem unter anderem dreitausend Streitwagen gehörten. Sauls Plan war es, die Israeliten wieder zu den Waffen zu rufen und tatsächlich vereinten sich erneut alle hinter ihm.
Als die Krieger aber die anrückenden Streitkräfte der Philister sahen, fiel ihnen auf, dass das doch eine ganz andere Größenordnung war als die kleine Armee der Ammoniter. Sie zogen daraus folgenden Schluss: Flieht, solange es noch geht! Und so versteckten sich die Israeliten „in Höhlen, Schlupflöchern, Felsspalten, Gruben und Zisternen.“ Saul floh nicht, aber er konnte nur sechshundert Mann überzeugen, bei ihm zu bleiben.
Saul war ein erfolgreicher Feldherr, aber nicht grausam genug. Das wurde ihm zum Verhängnis.
In dieser scheinbar ausweglosen Situation kam Saul auf eine erstaunliche Idee und ließ die Bundeslade in die Schlacht führen. Gott griff daraufhin auf der Seite seines Volkes ein, denn es „bebte die Erde und es entstand ein Gottesschreck“, woraufhin sich die Philister gegenseitig erschlugen. Damit hatten die Israeliten einen noch viel größeren Triumph errungen als gegen die Ammoniter, auch wenn die Bibel sehr genau weiß, wem die Lorbeeren in Wahrheit gebührten: „Der HERR rettete an jenem Tag Israel.“
Saul kämpfte noch gegen allerlei anderer Feinde der Israeliten und es heißt dazu: „Wohin er sich auch wandte, war er siegreich. Er vollbrachte tapfere Taten, schlug Amalek und befreite Israel aus der Hand derer, die es ausraubten.“ Kann man von einem König noch mehr erwarten? Mit dem düsteren Despoten, vor dem Samuel die Israeliten gewarnt hatte, hatte dieser König jedenfalls nichts zu tun. Dann aber machte er einen großen Fehler. Als seine Vorfahren beim Auszug aus Ägypten erschöpft an der Grenze des Landes Amalek angekommen waren, wurde ihnen die Durchreise verweigert.
Als verspätete Strafe dafür, so wollte es Gott, sollte dieses Land nun erobert und jeder getötet werden, der dort lebte: „Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.“ Mit einer mächtigen Armee von 210.000 Mann rückte Saul vor und ließ den Amalekitern keine Chance. Doch er ließ das wertvolle Vieh am Leben und auch den feindlichen König selbst, womit er eindeutig gegen Gottes Willen verstoßen hatte, jeden und alles zu töten.
Offenbar war ihm nicht bewusst, in was für Schwierigkeiten ihn das bringt. Als Samuel ihn darauf ansprach, meinte Saul unbekümmert, dass das Volk doch Teile des Viehs Gott opfern würde und darum alles in Ordnung sei. Dass er mit dem gefangenen König eine Person am Leben gelassen hatte, sah er ebenfalls nicht als Problem an. Samuel widersprach ihm, aber auch das konnte Saul nicht irritieren.
Erst als Samuel ihm kurz darauf mitteilte: „Weil du das Wort des HERRN verworfen hast, / verwirft er dich als König“, brach Saul zusammen und flehte darum, seinen Fehler korrigieren zu dürfen. Doch es war zu spät, was ein melodramatischer Moment verdeutlicht, der sich beim Weggehen Samuels ereignete. Der schockierte Saul griff nach dem Mantel des Richters, woraufhin dieses Stück Stoff abriss. Samuel, als Gottesmann geschult im Erkennen von kraftvollen Bildern, bemerkte sofort den Symbolgehalt und erklärte: „So entreißt dir heute der HERR die Herrschaft über Israel und gibt sie einem anderen, der besser ist als du.“
Tief verunsichert zog Saul sich in eines seiner Häuser zurück, während er zwar weiterhin König war, aber Gott nicht mehr auf seiner Seite wusste. Wobei es einem anderen Monarchen zur selben Zeit noch schlechter erging. Der von ihm gefangene König der Amalekiter wurde nämlich gefesselt vor Samuel geführt und dieser hieb ihn „vor den Augen des HERRN“ in Stücke. Nun hatte Israel also einen König, von dem Gott nichts mehr wissen wollte. Das war die denkbar ungünstigste Konstellation, die möglich war und vermutlich hatte Samuel genau das befürchtet, als er sich von Anfang an gegen die Monarchie ausgesprochen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass künftige Könige die Geschichte der Israeliten noch weitaus tiefgreifender prägen sollten als Saul und zum Teil als halb mystische und halb historische Personen in die kollektive Allgemeinbildung der Menschheit eingehen würde. Um einen davon geht es im nächsten Kapitel.
(Fortsetzung folgt)