Josef war das Lieblingskind von Jakob und hatte elf Brüder, mit denen er „kein friedliches Wort mehr reden konnte.“ Vermutlich war er nicht ganz unschuldig daran, denn er hätte es sich auch sparen können, den Geschwistern von seinen Träumen zu erzählen, die alle in etwa diesen Verlauf hatten: „Siehe, wir banden Garben mitten auf dem Feld. Und siehe, meine Garbe richtete sich auf und blieb auch stehen. Siehe, eure Garben umringten sie und warfen sich vor meiner Garbe nieder.“ Seine Brüder „hassten ihn wegen seiner Träume“ und meinten es so ernst, dass sie ihn deswegen töten wollten. Seit Kain dachte, durch Brudermord seine Probleme aus der Welt schaffen zu können, hatte es kein absurderes Tatmotiv mehr gegeben: Mord aus Wut auf Träume.
Die Restvernunft der Brüder reichte dann immerhin noch aus, um ihn doch nicht umzubringen, sondern ‚nur‘ in einen ausgetrockneten Brunnen zu werfen. Weil sie offenbar selbst nicht so recht wussten, wie es danach weitergehen sollte, nutzten sie dann das Erscheinen der nächstbesten Karawane und verkauften Josef kurzerhand in die Sklaverei. Der Tross zog weiter und die Geschwister waren danach zwanzig Silberstücke reicher und einen Bruder ärmer. Wenn sie aber gedacht hatten, dass sie Josef nie wieder sehen würden, sollten sie sich sehr täuschen. Nun hieß es aber als nächstes, ihrem Vater Jakob beizubringen, dass sein Lieblingssohn nicht mehr lebt. Sie kamen dabei auf eine ebenso feige wie grausame Lösung und kehrten mit Josefs Gewand zurück, das sie ihm weggenommen hatten. Dieses Gewand tauchten sie in das Blut eines Ziegenbocks und überreichten es Jakob. Dem alten Mann brach wie erwartet das Herz und er „zerriss seine Kleider, legte ein Trauergewand an und trauerte um seinen Sohn viele Tage“.
Ein kleiner Einschub soll zeigen, dass zu jener Zeit offenbar alle zu Überreaktionen neigten: Juda, einer der elf Brüder Josefs, heiratete und bekam selbst drei Söhne. So weit verlief alles noch halbwegs normal. Dann jedoch eskalierten die Dinge auf atemberaubende Weise. Als sein ältester Sohn alt genug war, suchte Juda ihm eine Frau. Doch Gott gefiel dieser Erstgeborene nicht und was tat Gott deswegen? Er tötete ihn kurzerhand. Der Tathergang wird nicht genauer beschrieben, es heißt nur recht allgemein: „Und so ließ ihn der HERR sterben.“ Juda steckte diesen Schicksalsschlag weg und brachte seinen zweiten Sohn mit der Witwe seines ersten Sohnes zusammen, den Gott getötet hatte. Und was passierte? Gott tötet auch ihn. Die zweifache Witwe erfüllte sich ihren Kinderwunsch schließlich doch noch, und zwar, indem sie sich als Prostituierte verkleidete und von einem Freier schwanger wurde, den sie nur zu gut kannte: Jude, den Vater ihrer zwei verstorbenen Ehemänner. An dieser Konstellation hatte Gott offenbar nichts auszusetzen, jedenfalls griff er nicht mehr mit tödlichen Konsequenzen ein und die schwer gebeutelte Frau wurde Mutter.
Wichtigster Berater des Hausherrn und trotzdem Sklave
Und damit zurück zu Josef, der Glück im Unglück hatte. Er kam nach Ägypten, wo ihn einer der wichtigsten Beamten des Pharaos kaufte. Zwar war Josef damit eigentlich ganz unten angekommen, aber er konnte seinen Besitzer mit Organisationstalent und Charisma begeistern, weswegen er einen erstaunlichen Aufstieg vom rechtlosen Sklaven zum wichtigsten Mann im Haus nach dem Hausherrn selbst hinlegte – wobei er weiterhin ein Sklave blieb. Das Ausmaß an Vertrauen, das der Beamte ihm entgegenbrachte, macht auch diese Passage deutlich: „Er ließ seinen ganzen Besitz in Josefs Hand und kümmerte sich, wenn Josef da war, um nichts als nur um sein Essen.“
Josef hatte sich also eine Existenz aufgebaut und sich Respekt und Anerkennung erworben. Besser hätte es für ihn im Hause des Beamten nicht mehr werden können und besser wurde es auch nicht mehr. Schuld daran war dessen Frau, die ein Auge auf ihn geworfen hatte und „Tag und Nacht auf Josef einredete, an ihrer Seite zu liegen“, bis die Situation schließlich eskalierte: „An einem solchen Tag kam er ins Haus, um seiner Arbeit nachzugehen. Niemand von den Hausleuten war dort im Haus. Da packte sie ihn an seinem Gewand und sagte: Liege bei mir! Er ließ sein Gewand in ihrer Hand, floh und lief nach draußen.“ Für die Frau war das wohl die eine Zurückweisung zu viel und so ging sie zu ihrem Mann und behauptete, dass Josef sich an ihr vergehen wollte. Als Beweis zeigte sie ihm das Gewand. Der „hebräische Sklave“ versuchte erst gar nicht, sich zu verteidigen, sondern ließ sich in den Kerker werfen. Der Beamte erfuhr darum nie, dass seine Frau ihn angelogen hatte und Josef in Wahrheit außerordentlich loyal gewesen war – während sie ein Problem mit der Treue hatte.
Doch auch im Kerker stieg Josef schnell auf: „Der Kerkermeister übergab der Hand Josefs alle Gefangenen im Kerker. Alles, was dort zu tun war, tat Josef.“ Er war also Gefangener und Kerkermeister zugleich, was so in dieser Kombination wohl nur ganz selten gibt und wenn doch, nur ganz kurz, bevor die Person ihre Doppelrolle zum Anlass nimmt, auszubrechen. Josef brach aber nicht aus, sondern entdeckte im Kerker wieder seine Liebe zur Traumdeutung. Alles begann mit zwei Vertrauten des Pharaos, die in Ungnade gefallen waren und nun ebenfalls im Kerker saßen. Sie wurden von verstörenden Träumen geplagt und Josef bot an, sie zu deuten. Er hatte bislang zwar immer nur seine eigenen Träume ausgelegt, aber traute sich das offenbar auch für andere zu. Den einen Mann konnte er beruhigen, denn er würde wieder für den Pharao arbeiten dürfen. Für den anderen hatte er weniger gute Nachrichten: Er würde hingerichtet werden. In beiden Fällen behielt er recht und bat den Begnadigten, dass er doch bitte beim Pharao ein gutes Wort für ihn einlegen möge. Quasi als Gegenleistung für die Traumdeutung. Das schien angemessen, aber der Freigelassene tat es trotzdem nicht. So blieb Josef weiterhin im Kerker.
Am Ende waren es sieben dicke und sieben dürre Kühe, die ihn befreiten. Denn von ihnen (und von sieben prallen und sieben kümmerlichen Ähren) träumte der Pharao und weil keiner seiner professionellen Traumdeuter etwas mit diesen Kühen anzufangen wusste, erinnerte sich der Freigelassene endlich wieder an seinen früheren Mit-Gefangenen. Er empfahl dem Pharao also, Josef sein Glück versuchen zu lassen.
Und Josef wusste zu überzeugen. Er sah in den sieben prallen und dann dürren Kühen und den sieben prallen und dann kümmerlichen Ähren sieben gute Jahre, auf die sieben schlechte Jahre folgen. Im Grunde legte Josef hier eine der frühesten Wirtschaftsprognosen der Geschichte vor. Doch der viel wichtigere Teil seines Vortrags bestand nicht in der Traumdeutung selbst, sondern in dem, was er jetzt nachschob. Hätte er sich mit der bloßen Deutung zufriedengegeben, hätte man ihn mit freundlichen Worten zurück in den feuchten Kerker verabschiedet. Darum entwarf er direkt einen Plan, was gegen die schlechten Jahre getan werden könnte und schloss seine Ausführungen ab mit: „Nun sehe sich der Pharao nach einem klugen, weisen Mann um und setze ihn über das Land Ägypten!“
Der Pharao als Hungersnot-Gewinner
Und wen wird der besorgte Pharao für diese Aufgabe wohl auswählen? Etwa einen seiner Berater, die allesamt an den Kühen und Ähren gescheitert waren? Oder doch lieber den charismatischen Josef, der offenbar am besten von allen wusste, was zu tun ist? Josef hatte tatsächlich die perfekte Bewerbungsrede auf sich selbst gehalten und sich auf diese Weise aus den dunklen Kerkern in die Machtzentrale Ägyptens katapultiert. Der Pharao gab ihm eine Frau aus einer mächtigen Priesterfamilie und erklärte: „Schau her, ich stelle dich über das ganze Land Ägypten.“ Nur der Pharao selbst stand noch über ihm.
Zu diesem Zeitpunkt zählte Josef erst dreißig Jahre und hatte schon einen märchenhaften Aufstieg hinter sich. Es spricht für die Toleranz in Ägypten, dass ein Fremder an der Spitze geduldet wurde, der noch dazu wegen eines Sexualverbrechens im Gefängnis gesessen hatte. (Auch wenn der Vorwurf ausgedacht war.) Er nutzte die ersten sieben Jahre, um große Vorräte anlegen zu lassen, „bis man aufhören musste, es zu messen, weil man es nicht mehr messen konnte.“ In dieser Zeit wurde er auch zweimal Vater und hatte sich damit endgültig in der ägyptischen Oberschicht etabliert. Danach kamen die sieben schlechten Jahre und Ägypten war gut vorbereitet. Übrigens als einziges Land „auf der Erde“, denn überall sonst litten die Menschen Hunger.
Aber auch die Ägypter zahlten einen hohen Preis, denn Josef brachte sie im Verlauf der sieben Jahre erst um ihr Vieh, dann um ihr Ackerland und schließlich um ihre Freiheit. Nachdem ihnen das Geld für Brot ausgegangen war, verlangte er nämlich nacheinander diese drei Dinge als Zahlungsmittel. Nun mussten sie als Leibeigene des Herrschers die Felder bestellten, die früher ihnen selbst gehört hatten und für ihn das Vieh hüten, das früher ihr eigenes gewesen war. Beim Pharao handelte es sich darum um den eigentlichen Gewinner dieser Krise, wobei das ohne seinem loyalen Hilfs-Pharao Josef nie möglich gewesen wäre.
Aus aller Welt strömten die Menschen nun nach Ägypten und kauften Getreide. Josefs Brüder kamen ebenfalls aus diesem Grund ins Land und erkannten ihn nicht, er aber sie. Während Josef gegenüber der Frau, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte, offenbar keinen Groll hegte, sah das bei seinen Brüdern anders aus. Also begann er mit seinen Psychospielen und warf ihnen vor, Spione zu sein, bevor er sie verhaften ließ. Drei Tage mussten sie so in Todesangst in einem Kerker ausharren – womöglich in dem, wo er selbst eingesessen hatte. Er teilte ihnen schließlich mit, dass sie mit dem Leben davonkommen, aber einer als Geisel hier bleiben müsse. Die anderen sollten mit vollen Getreidesäcken zu ihrem Vater heimkehren und danach mit dem jüngsten Bruder zusammen zurückkehren.
Dieser hatte auf der Reise gefehlt und nun wollte dieser ägyptische Beamte, der die Brüder offenbar ohne Grund hasste, dass sie auch noch ihn in Gefahr brachten. Sicherlich hatte Josef allen Grund, sich an seinen Brüdern zu rächen. Aber auch Rache kennt Grenzen und Josef gab sich alle Mühe, diese zu überschreiten. Als nun auch der jüngste Bruder vor ihm stand, veranstaltete er ein Festmahl in so verstörender Atmosphäre, dass die Brüder ernsthaft befürchteten, versklavt zu werde – sie fürchteten sich übrigens auch darum, dass ihre Esel zu Sklaven werden, wobei sich für diese dadurch wohl wenig geändert hätte. Um die Angst und die Furcht der Brüder weiter zu schüren, ließ Josef sie lange warten, bevor er sich beim Essen zeigte. Als sich herausstellte, dass ihre Befürchtungen nicht eingetreten waren, zogen die Brüder als freie Männer und mit erneut gefüllten Getreidesäcken zurück nach Kanaan. Nur um damit in die nächste Falle zu tappen. In den Getreidesack des jüngsten Bruders hatte Josef einen kostbaren Becher legen lassen. Seine Soldaten eilten also hinterher und fanden das „Diebesgut“, woraufhin die Brüder vor Josef geführt wurden, wo es mit den Demütigungen weiterging. Nun gingen sie vor ihm auf die Knie und flehten ihn an, ihren Bruder nicht als Strafe für den angeblichen Diebstahl zu seinem Sklaven zu machen.
Nachdem Josef sie noch eine Weile spüren ließ, dass sie ihm ausgeliefert waren, hatte er endlich genug. Er hatte seine Rache gehabt und gab sich zu erkennen. Und wie: „Er begann so laut zu weinen, dass es die Ägypter hörten; auch am Hofe des Pharao hörte man davon.“ Nachdem sich alle ein wenig beruhigt hatten, erklärte Josef seinen Brüdern, dass er es ihnen nicht übel nimmt, ihn verkauft zu haben. „Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gott!“, stellte er fest. Das sind noble Worte, die noch glaubwürdiger gewesen wären, wenn er seine Brüder seit ihrer Ankunft in Ägypten nicht als Spione denunziert, mit dem Tode bedroht, sie eingesperrt, versklavt, verhöhnt und gedemütigt hätte. Keiner wollte ihn in diesem Moment aber an den Unterschied zwischen seinen Worten und Taten erinnern.
Josef erfüllt Jakobs letzten Willen nicht gleich
Als nächstes bereitete Josef die Übersiedlung seines Vaters Jakob nach Ägypten vor. Mit ihm zusammen zogen siebzig Personen mit, die der Pharao „im besten Teil des Landes“ ansiedelte, was während einer Hungersnot sicherlich nicht selbstverständlich ist. Und auch sonst nicht. Wenn es aber die Verwandtschaft des Mannes ist, der Ägypten praktisch im Alleingang vor einer katastrophalen Hungersnot bewahrt hat, machte der Pharao das aber natürlich möglich. Jakob lebte dort noch siebzehn Jahre, segnete den Pharao und verlor sich im Winter seines Lebens zunehmend in Anekdoten über seine Vorfahren und schien ein wenig unzufrieden mit seinen eigenen Leistungen: „Gering an Zahl und unglücklich waren meine Lebensjahre“ fand er, obwohl er immerhin 147 Jahre alt wurde, was nur den wenigsten vergönnt war.
Aber auch in diesem Fall ist wieder entscheidend, mit wem man sich vergleicht und im Fall Jakob waren das seine Ahnen, die zum Teil weit über 900 Jahre zählten. Schließlich starb er und wollte in der Grabstätte seiner Vorfahren beerdigt werden. Er ließ es sich nicht nehmen, mit Abraham, Sara, Issak, Rebekka und seiner eigenen Frau Lea die Namen derer zu nennen, die dort schon ruhten, bevor er dahinschied. Josef wiederum ließ es sich nicht nehmen, ihm seinen letzten Wunsch nicht sofort zu erfüllen. Stattdessen machte er etwas, was in Ägypten ziemlich beliebt war und in Kanaan völlig unbekannt: Er ließ Jakob einbalsamieren. Siebzig Tage wurde um ihn getrauert, der eigentlich seit seinem siegreichen Ringkampf gegen Gott Israel hieß.
Josef selbst wurde Großvater, Urgroßvater und Ururgroßvater und als er schließlich mit hundertzehn Jahren starb, bewies er seine enge Verbundenheit zu Ägypten und ließ sich nicht in Kanaan beerdigen, sondern im Land der Pharaonen. Natürlich einbalsamiert, wie es sich für einen richtigen Wahl-Ägypter gehörte. Josef konnte als Hebräer über Jahrzehnte hinweg das Land praktisch als Vize-Pharao regieren, ohne dass seine Religion oder Abstammung ein Problem waren. Diese Toleranz würde aber nicht ewig währen, was die Nachfahren der zwölf Brüder bitterlich erfahren sollten.
(Fortsetzung folgt…)
Das Buch Genesis / Die Anfänge
Die Erzeltern
Josef und seine Brüder
Das Buch Exodus / Israel in Ägypten
Empörung des Pharao gegen Gott
Auszug aus Ägypten
Offenbarung und Bundesschluss
Grundlegung der Ordnung von Heiligtum und Liturgie
Sünde des Abfalls und ihre Vergebung
Ausführung der liturgischen Anordnung
Das Buch Levitikus / Opferbestimmungen
Einsetzung der Priester als Träger der Heiligkeit
Reinheit im Alltag