Nach der recht kompromisslos durchgeführten Eroberung des Landes ging es an seine Verteilung unter den zwölf Stämmen. Also eigentlich waren es nur noch neuneinhalb Stämme, weil zweieinhalb sich von Moses die Erlaubnis hatten geben lassen, auf der „falschen“ Seite des Jordans zu bleiben.
Wie ging jetzt aber ein Volk bei der Verteilung des Landes vor, das ihm von Gott versprochen wurde und für das es eine vierzig Jahre lange Reise voller Gefahren und Entbehrungen in Kauf genommen hatte? Hatte der HERR sich dazu in seinen mitunter ausschweifenden Gesetzen (er hatte sogar eine Meinung zum Diebstahl von Eiern aus Vogelnestern) Gedanken gemacht? Oder das Volk selbst? Nein und nein. In vier Jahrzehnten wurde kein Plan geschmiedet, wer eigentlich was für einen Teil des Landes besiedeln soll. Weil jedoch Entscheidungen hermussten, wurden diese schlicht per Los getroffen.
Es gab allerdings auch ein paar Ausnahmen, bei denen Israeliten selbst aktiv um ein bestimmtes Stück Land warben und es oft auch bekamen. Einer von ihnen war Kaleb. Ein Mann von mittlerweile fünfundachtzig Jahren, der vor fünfundvierzig Jahren für einen kurzen Augenblick die israelitische Geschichte mitprägte. Er war jener Kundschafter gewesen, der dem Volk Mut machte, dass Kanaan erobert werden kann, während die anderen Kundschafter den Leuten mit Gruselgeschichten über unbesiegbare Riesen Angst gemacht hatten.
Er war es auch (zusammen mit einem weiteren Mann), der Moses vor dem Volk schützte, das die Geschichten von den Riesen glaubte und Moses vorwarf, sie alle in den Untergang zu führen. Damit war Kaleb nicht nur der einzige männliche Israelit aus der „Sinai“-Generation, der Kanaan betreten durfte, sondern er schien weiterhin erstaunlich gesund und stark zu sein. Er hatte sich in einen Flecken Land verliebt, der noch von anderen Völkern bewohnt wurde, die er auf Josuas Erlaubnis hin vertreiben durfte. Das gelang ihm trotz seines hohen Alters und er wurde sesshaft, womit seine zweite und letzte Erwähnung in der Bibel vorbei ist.
Jericho komplett zerstört, nur um es gleich wieder aufzubauen
Doch für alle, die ihr Land dem Losglück anvertrauten, hieß es nun, Josua genau zuzuhören, der den Stämmen mitteilte, wo sie künftig siedeln werden. Der Prophet nannte Bergrücken, Steppen, Brunnen, Quellen und Steine, die als Grenzziehung dienen sollten. Er verbrachte viel Zeit damit, geografische Angaben wie diese durchzugeben: „Das Gebiet ihres Erbbesitzes erstreckt sich bis nach Sarid. Ihre Grenze steigt westwärts nach Marala hinauf, berührt Dabbeschet und stößt an das Bachtal gegenüber von Jokneam. Von Sarid aus wendet sie sich nach Osten dem Sonnenaufgang zu zum Gebiet von Kislot-Tabor, läuft weiter nach Daberat und hinauf nach Jafia.“ Soweit dieser Auszug aus einer noch deutlich umfangreicheren Beschreibung.
Dass Josua dem Stamm der Benjaminiter unter anderem Jericho zusprach, erstaunt ein wenig, schließlich hatte er selbst noch bei der Eroberung – und vollständigen Zerstörung – der Stadt gewütet: „Verflucht beim HERRN sei der Mann, der es unternimmt, diese Stadt Jericho wieder aufzubauen. Seine Erstgeborenen soll es ihn kosten, wenn er sie neu gründet und seinen Jüngsten, wenn er ihre Tore wieder aufrichtet.“
Entweder hatte er es im Nachhinein doch nicht so dramatisch gemeint oder – aber das ist eine hochspekulative Theorie – er hatte einen persönlichen Groll gegen die Benjaminiten, denen er durch den Wiederaufbau der Stadt auf hinterhältige Weise schaden wollte. Fest steht jedenfalls, dass Josua in erstaunlich kurzer Zeit die Wandlung vom unbarmherzigen Kriegsherrn zum pragmatischen Realpolitiker gelungen war.
Als das Land aufgeteilt wurde, ging es auch um so genannte Asylstädte. In diese konnte fliehen, wer ohne Absicht einen anderen Menschen getötet hatte. Wenn er einen solchen Ort erreichte, durfte ihn kein Verfolger mehr töten, der ihn im Einklang mit den Regeln der Blutrache umbringen wollte. In Asylstädten hatte man das Recht auf einen Prozess und nur, wessen Schuld nachgewiesen werden konnte, musste sterben.
Fast ein Bürgerkrieg wegen eines Missverständnisses
Als schon alle dachten, dass nach dem recht einseitigen Morden beim Erobern des Landes und der mittlerweile erfolgten Verlosung von Grund und Boden eine Phase des Friedens beginnt, brach beinahe ein Bürgerkrieg aus. Im Grunde ging er auf ein Missverständnis zurück, denn die zweieinhalb Stämme auf der „falschen“ Jordanseite hatten einen Altar für den HERRN gebaut. Die anderen Israeliten glaubten jedoch, dass es sich dabei um die heilige Stätte für eine andere Gottheit handeln würde, und schon standen sich die israelitischen Soldaten kampfbereit gegenüber.
Letztlich kam es nicht zum Blutvergießen, da die zweieinhalb Stämme glaubhaft machen konnten, dass es sich um einen Altar für ihren aller Gott handelte, doch diese Episode zeigt, wie angespannt die Stimmung zu jener Zeit war. Sie zeigt außerdem, dass die Israeliten sich gegenseitig nicht so sehr vertrauten, wie man es nach so vielen gemeinsamen Abenteuern und Eroberungen erwarten würde.
Dass auf der „falschen“ Jordanseite nämlich überhaupt ein Altar gebaut wurde, lag in der Sorge der zweieinhalb Stämme begründet, man könnte ihnen eines Tages absprechen, zum Volk Israel zu gehören. Gott habe schließlich den Jordan als natürliche Grenze für sein Land festgelegt. Das erklärten sie auch ihren aufgebrachten Mit-Israeliten und vermutlich verhinderten dabei folgende Worte einen Bürgerkrieg: „Dann können eure Söhne morgen nicht unseren Söhnen sagen: Ihr habt keinen Anteil am HERRN.“ Das schienen alle verstanden zu haben.
Fortsetzung folgt…