Moses sprach weiter über sein Leben und dabei besonders über die Wanderung mit seinem Volk. Dabei stellt er immer wieder klar, wie enttäuschend es sich während der Reise verhalten habe: „Von dem Tag an, als du aus Ägypten auszogst, bis zur Ankunft an diesem Ort habt ihr euch dem HERRN ständig widersetzt“, tadelt er und geht noch weiter. Nicht nur auf dieser Reise, sondern generell „habt ihr euch dem HERRN widersetzt, seit ich euch kenne!“ Das sind schwere Vorwürfe, aber man sollte nicht vergessen, dass sie von jemandem kommen, den dieses Volk mehrmals steinigen wollte. Gut möglich, dass auch solche Erfahrungen zum bitteren Urteil beitrugen.

Was er genau vierzig Tage auf dem Berg machte, bleibt weiterhin unklar, aber essen und trinken gehörten auf jeden Fall nicht dazu, denn „ich aß kein Brot und trank kein Wasser.“ Doch kommt jetzt heraus, dass Moses keineswegs vom Anblick des Goldenen Kalbs überrascht war. In Wahrheit wusste er schon Bescheid, weil Gott ihn wegen genau dieser Ketzerei auf den Rückweg geschickt hatte. Nachdem er sich am Fuß des Berges trotzdem so sehr empörte, dass ihm jeder seine Wut abnahm, ging es wieder vierzig Tage auf die Bergspitze, wo er einen beträchtlichen Teil der Zeit damit zubrachte, sich auf den Boden zu werfen, um so die Vernichtung des Volks zu verhindern.

Gottes Angst vor wilden Tieren

Auch wenn er wegen ihm oft unzufrieden und verärgert war, gab es doch keinen mutigeren Kämpfer für das Volk, das er mal entnervt das „kleinste unter allen Völkern“ nannte, über das er jedoch auch voller Stolz verkündete: „Jetzt aber hat der HERR dein Gott, dich so zahlreich gemacht wie die Sterne am Himmel“. Das Verhältnis zwischen Volk, Moses und Gott war jedenfalls immer von tiefen Gefühlen geprägt, im guten wie im schlechten.

Moses erwähnte auch den Tod seines Bruders Aaron, nicht aber den seiner Schwester und Prophetin Mirjam, die überhaupt nur einmal erwähnt wurde: als warnendes Beispiel dafür, dass Gott Menschen mit Aussatz strafen kann!

Er sprach jedoch nicht nur über vergangenes, sondern auch über eine Zukunft, an der er selbst nicht mehr teilhaben würde. Und diese Zukunft war ebenso verheißungsvoll wie brutal. Zwar sollte sie im Land liegen, wo Milch und Honig fließen, doch für sie müssten noch einige Gegner aus dem Weg geräumt werden. Namentlich hatte Gott dabei sieben Völker im Blick: die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Peristier, Hiwiter und Jebusiter. Sie alle waren zahlreicher und mächtiger als die Israeliten, sollten aber mit der Hilfe des HERRN trotzdem vernichtet werden, und zwar vollständig und „nach und nach“.

Dass Gott sie nicht alle auf einmal vernichten wollte, hatte einen etwas überraschenden Grund: „Weil sonst die wilden Tiere überhandnehmen und dir schaden“. Diese würden offenbar sofort den Platz der früheren Völker einnehmen und plötzlich gäbe es Hyänenplagen, wo es zuvor noch Hiwiter und Amoriter gab. Diese sieben Völker waren auch explizit aus der Strategie ausgenommen, laut der die Bevölkerung von Städten verschont wird, wenn sie kapitulieren. Für sie hieß es stattdessen recht simpel: „In den Stadtmauern darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen.“

Wer sich des Götzendienstes schuldig machte, wurde gesteinigt

Außerdem hatten sich die Israeliten bei der Belagerung dieser Städte an eine Regel zu halten, die sie wie die ersten Grünen der Weltgeschichte erscheinen lässt: Es war ihnen verboten, Bäume zu fällen, die Früchte tragen. Aus ihnen durften keine Rammböcke oder ähnliche Eroberungswaffen hergestellt werden, weswegen es von den Belagerten wohl taktisch klug gewesen wäre, nur Fruchtbäume außerhalb der Stadtmauern zu pflanzen.

Gleichzeitig standen aber nicht nur die sieben Völker auf Gottes Abschussliste, sondern noch eine ganze Reihe von Berufen und Talente. Ein „Prophet“ oder „Traumseher“, der die Israeliten vom wahren Glauben weglocken will, muss sterben, und zwar auch dann, „wenn das Zeichen und Wunder, das er dir angekündigt hat, eintrifft“. Das gleiche Schicksal blühte Verwandten, engen Freunden oder dem Ehepartner, wenn sie Glaubenszweifel schürten. Wer sich des Götzendienstes schuldig machte, musste gesteinigt werden, ebenso hatte zu sterben, wer nicht auf das Urteil der Richter und Priester hörte. Sogar Söhne, die sich „störrisch und widerspenstig“ gegen ihre Eltern verhielten, hatten ihr Leben verwirkt. Was es außerdem alles nicht geben durfte: Wolken deuten, aus Bechern weissagen, Zaubern, Gebetsbeschwörungen hersagen, Totengeister oder Losorakel befragen sowie Verstorbene um Rat fragen. Für jeden, der so etwas trotzdem machte, galt: „Diese Leute rottet der HERR aus.“

Sogar ganze Städte konnten vernichtet werden, wenn sie von Gott abfielen. Wobei dem aber „genaue Ermittlungen“ vorausgehen mussten, bevor es mit Sicherheit hieß: „Ja, es ist wahr, der Tatbestand steht fest“, woraufhin „die Bürger dieser Stadt mit scharfem Schwert erschlagen“ werden sollten und auch sonst alles, „was darin lebte“, bevor die Stadt niedergebrannt und nie mehr aufgebaut werden soll.

Manche Rechtsprechung klingt erstaunlich modern, andere nicht

Auch auf die Frage einer künftigen Monarchie als Regierungsform ging Moses ein. Ja, einen König dürften sich die Israeliten geben, da sprach nichts dagegen, solange er sich nur an ein paar Dinge hielt. Zu denen zählte im Wesentlichen, nicht zu viele Pferde und Frauen zu haben und auch nicht zu viel Gold oder Silber. Die wichtigste aller Regeln lautete aber: „Er soll das Volk nicht nach Ägypten zurückbringen“. Dieser Hinweis dürfte auf die Erfahrung während des Auszugs und der vierzig Jahre auf Wanderschaft zurückgehen, wo die Israeliten mehr als einmal eine seltsame Verklärung Ägyptens ergriffen hatte.

In Sachen Rechtsprechung klang vieles erstaunlich modern, was Moses zu sagen hatte. „Du sollst keine Bestechung annehmen; denn Bestechung macht Weise blind und verdreht die Fälle derer, die im Recht sind. Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen.“ Das könnte auch ein moderner Richter so unterschreiben. Doch es gab auch manch nobles Wort, das den Realitätstest nicht bestand. So war etwa die Sippenhaft verboten, denn „jeder soll nur für sein eigenes Verbrechen mit dem Tod bestraft werden.“ Doch es war Moses selbst, der auf der Wanderschaft den Tod der drei Leviten, die Moses Sonderstellung vor Gott infrage gestellt hatten, forderte und dazu auch den ihrer Frauen und Kinder und überhaupt „allen Menschen, die zu ihnen gehörten“. Er bekam damals seinen Willen, denn diese der Familien wurden vom Erdboden verschlugt, was  doch recht sippenhaftig klingt.

In Sachen Sex- und Eheleben erläuterte Moses, dass „gezüchtigt“ wird, wer zu Unrecht behauptet, die eigene Frau sei schon vor der Ehe keine Jungfrau mehr gewesen. Auch sei in so einem Fall eine Geldstrafe an ihren Vater fällig, da dessen Ruf beschmutzt wurde. An die Frau selbst müsse der Lügner nichts zahlen, offenbar war ihr Ruf weniger schutzwürdig. Sollte aber der Vorwurf zutreffen, dass sie keine Jungfrau mehr war, musste sie gesteinigt werden. Bei diesem Ausgang erwartete offenbar niemand vom Vater, auch diese Strafe zu tragen, wenn er beim umgekehrten Ausgang selbstverständlich die Entschädigung erhielt.

Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr lebensgefährlich war. Wer eine Affäre hatte, musste sterben. Sowohl der Mann als auch die Frau. Wer mit einer verlobten Frau schlief oder sie zum Sex zwang, musste ebenfalls sterben. Die Frau auch, außer es geschah auf freiem Feld außerhalb der Stadt. Dann wurde zu ihren Gunsten angenommen, dass es gegen ihren Willen geschah und niemand ihre Hilferufe gehört hatte, weswegen sie mit dem Leben davonkam. Während an dieser Stelle das Recht zugunsten der Frau ausgelegt wurde, verwandelte es sich an anderer Stelle in eine sadistische Falle für sie. Wer nämlich eine Jungfrau missbrauchte, musste ihrem Vater eine Strafzahlung übergeben und die Frau heiraten. Als wäre das nicht schon schlimm genug für die Frau, durfte diese Ehe auch nicht geschieden werden. Auf diese Weise wurde aus einer albtraumhaften Tat ein albtraumhaftes Leben für das Opfer.

Eine Besonderheit des Ehelebens war Übrigens die Schwagerehe. Wenn ein Bruder starb und keinen Sohn hatte, sollte seine Frau mit dessen Bruder zusammenkommen, wobei der erste Sohn dieser Beziehung den Namen des Verstorbenen erhielt, damit seine Linie nicht ausstarb. Theoretisch konnte sich der Bruder weigern, diese Ehe einzugehen, wobei er dafür öffentlich gedemütigt wurde, indem er vor die Ältesten zu treten hatte, wo schon die Witwe wartete, um ihm einen Schuh auszuziehen, ihn anzuspucken und zu rufen: „So behandelt man einen, der seinem Bruder das Haus nicht baut!“ Also konnte er sich auch gleich in sein Schicksal fügen und die Schwagerehe eingehen, wenn er nicht als Ausgestoßener enden wollte.

Gottes Drohungen nehmen siebenmal so viel Platz ein wie seine Schmeicheleien

Es war Frauen nicht verboten, ihrem Mann bei einer Schlägerei zur Seite zu stehen, doch sie mussten gut aufpassen, dabei nicht aus Versehen die „Schamteile eines fremden Mannes“ zu ergreifen. Geschah das, wurde ihnen die Hand abgehackt, was etwas übertrieben wirkt, aber inmitten all der todeswürdigen Vergehen im Kontext von Liebe, Ehe und Beziehung trotzdem nicht weiter auffällt. Ein wenig ohne Zusammenhang lässt Gott Moses außerdem verkünden, wer auf keinen Fall zur Versammlung des HERRN kommen durfte. Nicht zugelassen waren Männer mit gequetschten Hoden – ein immer wiederkehrendes Thema für Gott – oder einem verstümmelten Glied. „Bastarde“ waren auch verboten und Ammoniter und Moabiter sowieso. Ein Ägypter wäre hingegen erlaubt, was bei der Vorgeschichte vielleicht etwas überrascht.

Moses ließ kein noch so schambehaftetes Thema aus und so gab er dem Volk bekannt: „In deinem Gepäck sollst du eine Schaufel haben, und wenn du dich draußen hinhocken willst, dann grab damit ein Loch und nachher deck deine Notdurft wieder zu! (….) Dein Lager soll heilig sein, damit er bei dir nichts Anstößiges sieht und sich nicht von dir abwendet.“ Warum Gott seinen Geschöpfen überhaupt die Last einer Notdurftverrichtung aufgebürdet hatte, scheint Moses ihn nie gefragt zu haben – auch nicht in der Zweisamkeit ihrer insgesamt achtzig Tagen und Nächten auf dem Berg Sinai.

Seine Ansprache endete mit den Verlockungen, die Gott für die Bundestreue vorsah und den Drohungen für dessen Bruch. Moses klang zwischendurch fast wie ein moderner Motivationscoach, wenn er das Volk wissen ließ: „Der HERR macht dich zum Kopf und nicht zum Schwanz. Du kennst nur den Aufstieg, du kennst keinen Abstieg, wenn du auf die Gebote deines Gottes hörst!“ Doch auch die Drohungen hatten es in sich, die in bemerkenswerter Kleinteiligkeit ausgemalt wurden und etwa siebenmal so viel Platz einnahmen wie die Verlockungen und Schmeicheleien. Sehr verkürzt gesagt würden die Strafen mit wüsten Verfluchungen beginnen, sich zu körperlichen und seelischen Krankheiten weiterentwickeln, schließlich bei Krieg und Vertreibung ankommen und bei der Prophezeiung endet, dass sich Eltern im wilden Kannibalismus um das Fleisch ihrer Kinder streiten werden.

Am Ende dieser überaus verstörenden Tirade heißt es dann noch: „Der HERR wird dich auf Schiffen nach Ägypten zurückbringen!“ Also alles wieder auf Anfang. Wobei sich mancher Israelit bei diesen Worten wohl fragte, warum sie eigentlich den beschwerlichen Wüstenweg eingeschlagen hatten, wenn sie offenbar auch den Seeweg hätten nehmen können. Mit diesen beklemmenden Worten brachte Moses die Verkündigung der Gesetze und zugleich seine letzte große Rede zu Ende und blickte in diesem Moment vermutlich in viele sehr blasse Gesichter.

Fortsetzung folgt…