Eine Ära neigte sich ihrem Ende zu. Moses zog Bilanz, indem er in vergangenen Zeiten und Taten schwelgte. Dabei wurde auch seine persönliche Tragödie in den Mittelpunkt gerückt. Die nämlich, dass er zwar der Anführer der Israeliten war, aber trotzdem nach vielen Abenteuern, Gefahren und Entbehrungen nicht am Ziel dieser Volkswanderung ankommen durfte.

Gott hat auch ihm auferlegt, vorher sterben zu müssen. Dass Moses darunter litt, wird daran deutlich, dass er dezent nachfragte, ob dieser Bann vielleicht zurückgenommen werden könne. Gott hatte schließlich schon größere Wunder vollbracht und größere Kehrtwenden hingelegt, als einen einfachen Bann zu revidieren. Niemand wusste das so gut wie Moses selbst, der den HERRN in immerhin drei Situationen von seinem festen Entschluss abbringen konnte, die Israeliten zu vernichten.

Wäre es da nicht möglich, dass sein treuster Diener, sein loyaler Prophet, sein vorbildlicher Gläubiger vielleicht doch nach Kanaan einziehen kann. Vielleicht auch nur einen Tag, nur um das Gefühl zu haben, wirklich…Nein!

Für Gott ist Ägypten mal das Sklavenhaus und mal ein Schmelzofen

Gott lehnte den Wunsch ab. Oder, um genauer zu sein, polterte er: „Trag mir diese Sache niemals wieder vor!“ Gott war über diesen Wunsch so empört, als hätte Moses nachgefragt, ob denn irgendwo noch das Goldene Kalb rumsteht. Stattdessen bot er ihm etwas an, was vermutlich noch schlimmer war, als gar nicht ans Ziel zu kommen: Moses durfte das Land aus der Ferne sehen.

Trotzdem bewies er bis zum Schluss seine Loyalität, da er in seinem Lebensrückblick die Treue zu Gott immer wieder betonte. Er hatte zu viele Menschen sterben sehen – und zu viele davon selbst töten lassen –, die das erste Gebot missachtet hatten, um sich Illusionen darüberzumachen, wie wichtig dieses dem HERRN war. Er ging sogar so weit, dem Volk zu sagen: „Vierzig Jahre lang war der HERR, dein Gott, bei dir. Nichts hat dir gefehlt.“

Das ist eine recht kühne Behauptung, die komplett ausblendet, wie oft die Israeliten unzufrieden waren und sich sogar zurück in die ägyptische Sklaverei wünschten, weil sie ein Leben dort dem entbehrungsreichen Leben in der Wüste vorziehen wollten.

Dass es sich bei dem Auszug aus dem „Sklavenhaus“ Ägypten, das Gott auch den „Schmelzofen“ nannte, um ein historisches Ereignis handelte, will Moses durch eine Frage unterstreichen: „Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses und hat man je solches gehört? Hat je ein Volk mitten aus dem Feuer die donnernde Stimme eines Gottes reden gehört, wie du sie gehört hast, und ist am Leben geblieben?“

Was Moses dabei nicht berücksichtigte, war den beachtlichen Teil jener, die die Stimme gehört hatten und danach eben nicht am Leben blieben. Auch, dass viele Israeliten die Flucht ergriffen, als sie zum ersten Mal den Herrn mit Donnern und Blitzen vom Himmel auf den Berg Sinai absteigen sahen, überging er in seiner Rede.

Der Zeitgeist meinte es nicht gut mit besiegten Völkern

Dafür waren die Drohungen nicht zu überhören, die er im Namen Gottes an jene richtete, die sich anderen Göttern anschließen wollten. In kompromissloser Klarheit hieß es, dass stirbt, wer vom Glauben abfällt. Pakt ist Pakt!

Wobei diese brutalen Aussichten generell dem Zeitgeist entsprachen. Konflikte zwischen Völkern führten oft zum Verschwinden der einen Konfliktpartei. Was nichts anderes hieß als: „Wir vollzogen an ihrer ganzen Bevölkerung den Bann, auch die Frauen samt Kindern und Alten; keinen ließen wir überleben.“

Dieser Satz bezog sich auf den Konflikt mit König Sihon und ist nicht zu verwechseln mit König Og, zu dem es hieß: „Wir schlugen ihn und ließen keinen überleben.“ Doch es war keine Eigenheit der Israeliten, auf endgültige Weise Konflikte zu beenden, wie etwa die für den weiteren Verlauf der Bibel völlig belanglosen Kaftoriter zeigen, die einen nicht näher vorgestellten Gegner „vernichteten“.

Offenbar spielten damals die Konzepte Gefangennahme, Unterwerfung oder gar Integration in den eigenen Herrschaftsbereich keine ausgeprägte Rolle. Wobei es auch das an einigen Stellen schon gab. Aber vor allem das „Verschwinden“ ganzer Völker, als würde erst ihre vollständige Abwesenheit die neuen Herren legitimieren.

Für Moses war das alles jedoch schon Teil seiner reichen Vergangenheit, während nur noch ein mageres Stück Zukunft auf ihn wartet. Aber noch hatte er seine Aufgabe nicht ganz erfüllt, für die er einst von Gott ausgewählt wurde. Noch hatte er etwas zu erledigen.

Fortsetzung folgt…