Wenn ein Volk auftaucht, das plötzlich Ansprüche auf ein Land stellt und diese Ansprüche mit Gottes Willen begründet, sorgt das natürlich für Unruhe unter denen, die dort wohnen. Schließlich ist es über vierhundert Jahre her, dass die fernen Vorfahren jener Männer und Frauen, die ihren rechtmäßigen Platz einnehmen wollten, hier gelebt hatten. Damals war es außerdem eher eine Großfamilie als ein ganzes Volk gewesen.
Nun jedoch standen Hunderttausende Männer bereit, mit Gewalt zu erobern, was ihnen ihrer Meinung nach zustand. Mit zwölftausend Mann wurden die Midianiter angegriffen und nicht einfach nur besiegt, sondern vernichtet. Was bedeutet, dass die Israeliten „alle männlichen Personen umbrachten“ und „alle Städte im Siedlungsgebiet der Midianiter und ihre Zeltdörfer“ niederbrannten.
Sie töteten auch fünf Könige der Midianiter sowie den unglückseligen Propheten Bileam, der das Streitgespräch mit seiner Eselin verloren hatte, und damit das klassische Schicksal von Doppelagenten erlitt: Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, werden sie aus dem Weg geräumt. Offenbar hatte niemand den Eindruck gehabt, dass man ihm aufgrund seiner Verdienste das Leben schenken sollte.
Nach diesem erfolgreichen Feldzug kehrten die Israeliten mit reichlich Beute heim, wozu unter anderem reichlich Vieh gehörte. Um genau zu sein 675.000 Schafe und Ziegen und 72.000 Rinder, außerdem die Frauen und Kinder ihrer erschlagenen Feinde. Und genau das war ein Problem für Moses.
Er war ohnehin in einer angespannten Verfassung. Gott bereitete ihn in einem Gespräch darauf vor, bald mit seinen „Vorfahren vereint“ zu werden, da die Israeliten kurz davor standen, den Jordan zu überqueren und damit ihr Ziel zu erreichen. Da Gott es Moses verboten hatte, mit über diese Ziellinie zu laufen, waren seine Tage damit fast gezählt.
Der HERR erklärte Moses das in der ihm eigenen schroffen Art und statt ihm danach etwas Zeit für Sentimentalität zu lassen, folgt ohne Überleitung eine lange Aufzählung von Verhaltensweisen, die Gott beim Erbringen bestimmter Opfergaben von seinem Volk erwartet. Moses sollte das Volk darum wissen lassen, welche Ziegenböcke von wem und wann geopfert werden müssen, wann Lämmer an der Reihe sind und wann Widder. Außerdem wurde er beauftragt, seinen Nachfolger einzuarbeiten, der Josua hieß.
Moses trifft eine harte Entscheidung und muss sich langsam mit seinem Tod beschäftigen
Dass die Zeit nahte, in der die Israeliten in das versprochene Land einziehen, machte auch eine erneute Musterung deutlich. Zwar hatte sich die Gesamtzahl der Männer kaum verändert und lag nun mit 601.730 nur unwesentlich unter den 603.550 bei der ersten Zählung, doch gleichzeitig lebte keiner der Männer jener ersten Musterung noch. Keiner, bis auf die beiden Kundschafter, die das Land betreten durften.
Und während Moses also mit letzten Dingen für sich und reichlich göttlichen Regeln für die anderen beschäftigt war, kamen die siegreichen Krieger zurück. Moses sah sie und er sah sogleich ein Problem, das wiederum zeigte, dass diesen hochbetagten Mann (er war 120 Jahre alt) keine Altersmilde auszeichnete, sondern Seniorenhärte.
Wobei er sich auf gewisse Weise treu geblieben war, denn er stand dem Einsatz exzessiver Gewalt zur Problemlösung schon früher offen gegenüber. Am Berg Sinai ließ er 3.000 Mann töten, um den Abfall vom Glauben zu rächen und als ihn drei Reformer für seine Vorrangstellung vor Gott kritisierten, drängte er den HERRN, sie und ihre Familien vom Erdboden verschlucken zu lassen.
Doch selbst vor diesem Hintergrund war seine Entscheidung in Bezug auf die Gefangenen monströs. Er ließ alle männlichen Kinder und alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen hatten, töten. Nur die Mädchen und jungfräulichen Frauen „lasst für euch am Leben“, hieß es.
Als schließlich auch diese Massenhinrichtung ausgeführt war, zählten die Israeliten ihre eigenen Opfer und stellten erfreut fest, dass sie in diesem gesamten Midianiterkrieg nicht einen einzigen Mann verloren hatten.
Im Schatten dieser Kämpfe ging fast unter, dass die Rolle der Frauen gestärkt wurde. Zwar musste dafür erst der seltene Fall eines Vaters eintreten, der nur Töchter hatte, aber diese Situation sollte Rechtsgeschichte schreiben. Nun wurde nämlich von Gott festgestellt, dass Frauen gleichberechtigte Landbesitzer sein können, wenn es keinen Sohn in der Familie gab.
Weiter wurde festgelegt, dass kein israelitischer Stamm Landbesitz an einen anderen israelitischen Stamm verlieren durfte, da sie ihn allesamt als Erbbesitz verwalten sollten. Überhaupt war es eine Zeit, in der eilig Lücken in der Rechtsprechung getilgt wurden. Etwa die Frage von Gelübden und Eiden, bei denen die Frauen auch wieder klar einen Platz in der zweiten Reihe erhielten, da ihre Väter und nach der Heirat Ehemänner ihre Eide für nichtig erklären konnten.
Außerdem gab es plötzlich zweieinhalb israelitische Stämme, die gar nicht mehr bis ins Land mitreisen wollten, wo „Milch und Honig“ fließen, weil sie über große Viehbestände verfügten und das gerade eroberte Weideland auf der ostjordanischen Seite des Flusses dafür ideal fanden. Sie traten mit diesem Wunsch an Moses heran, der äußerst gereizt darauf reagierte.
Wenn Städte fielen, ging das für ihre Einwohner selten gut aus
Schließlich einigte man sich aber doch darauf, dass sie hier bleiben durften, wenn sie sich im Gegenzug weiter an der Eroberung Kanaans beteiligten. Als ob sie ihre Kampfbereitschaft unter Beweis stellen wollten, eroberten sie kurz darauf eine Stadt und, na klar, „rotteten die Amoriter aus, die dort lebten.“
Mit den Israeliten war eine neue Macht in die Region vorgedrungen. Wobei sie etwas irritierende Signale aussendeten. Einerseits verschafften sie sich schnell den Ruf gnadenloser Krieger, die auch nicht davor zurückschreckten, Kinder und Frauen hinzurichten, um ihren Gott zu gefallen. Doch zu richtigen Gotteskriegern taugten sie auch wieder nicht, da sie erstaunlich unbekümmert an den religiösen Ritualen anderer Völker teilnahmen, mit denen sie in Kontakt kamen.
Vermutlich war der Pharao mittlerweile froh, dass die Israeliten ihren Sklavenaufstand nicht dazu genutzt hatten, die Macht in Ägypten an sich zu reißen, sondern stattdessen den beschwerlichen Weg durch die Wüste wählten, um anderswo anderen Herrschern das Leben schwer zu machen. Denn damit sollte es jetzt erst so richtig losgehen.
Fortsetzung folgt…