Nach genau zwei Jahren, zwei Monaten und zwanzig Tagen am Berg Sinai brach das Volk auf und alles war so vorbereitet, wie es sich Gott vorgestellt hatte. Heißt das aber auch, dass die Reise in harmonischer Stimmung verlief? Nein, ganz im Gegenteil.

Vielleicht war es ohnehin unausweichlich, dass die großen Erwartungen an dieses neue Kapitel zwischen Gott und seinem Volk nur enttäuscht werden konnten. Auf jeden Fall wurde es zu einem Alptraum aus schlechter Laune, Schuldzuweisungen und Nervenzusammenbrüchen. Es ging damit los, dass im Volk schon bald nach der Abreise vom Berg Sinai wieder das „Murren“ und Weinen begann, das frappierend an die Stimmung erinnerte, die während der Reise zum Berg Sinai vorherrschte.

Erneut erlebte die Verklärung Ägyptens einen Höhepunkt. Habe man dort nicht umsonst zu essen bekommen? Ganz besonders an den Fisch erinnerte sich das Volk nun gerne zurück. Doch es schwelgte auch in Erinnerung an all die anderen Speisen, die es dort gab. Wie reich doch der Tisch gedeckt war damals und wie eintönig und leer er heute sei. Seit mehr als zwei Jahren dominierte nun schon das Manna die Speisekarten. Es schmeckte zwar wie Ölgebäck, aber auch das wird selbst dem größten Liebhaber irgendwann zu eintönig. Gott ging das Meckern über das Essen schließlich zu weit und „der Zorn des HERRN entbrannte.“

Wie frei die Nerven bei allen lagen, zeigt wiederum die Reaktion von Moses auf die Wut Gottes. Er warf Gott umgekehrt vor, ihn mit einer nicht erfüllbaren Aufgabe betraut zu haben und dass er nicht die Verantwortung für das ganze Volk übernehmen kann und will. Es kommt zu dramatischen Szenen, die in Moses Wunsch gipfeln, „wenn du mich so behandelst, dann bring mich lieber um.“ Das tat Gott nicht, sondern wies siebzig der Ältesten der Israeliten an, Moses zu entlasten. Was wohl auch wirklich nötig war, denn der zumeist stumme Zuhörer und begabte Gedächtniskünstler Moses fing zunehmend an, zu kritisieren und zu meckern, was der HERR von seinem eigentlich vorbildlich loyalen Vertrauensmann so gar nicht gebrauchen konnte.

Weil Gott sich so sehr über den israelitischen Wunsch nach Fleisch ärgerte – er sprach in diesem Kontext davon, dass ihm die Ohren „vollgeweint“ werden – will er ihnen Fleisch geben. Aber „nicht nur einen Tag werdet ihr es essen, nicht zwei Tage, nicht fünf Tage, nicht zehn Tage und nicht zwanzig Tage, sondern einen Monat lang“ will er das Volk mit Fleisch und noch mehr Fleisch versorgen. Bis „es euch zur Nase herauskommt und ihr euch davor ekelt.“

Es erstaunt ein wenig, wie empfindlich er auf den Hinweis reagiert hat, dass auf dem Esstisch nicht wirklich die große Auswahl vorhanden ist, wenn nur verschiedene Variationen des Manna zubereitet werden können. Eine Speise übrigens, die jede Nacht wie der Tau „auf das Lager herabkam.“ Moses hielt den von Gott ausgerufenen Fleischmonat für übertrieben und mahnte an, dass dafür die gesamte Viehherde der Israeliten geschlachtet werden müsste.

Aber Gott kannte andere Wege, um das nötige Fleisch zu besorgen und so trieb er „Wachteln vom Meer herüber.“ Sofort eilten die Israeliten los und sammelten die Vögel ein und taten das auch am zweiten Tag. Eigentlich hatte Gott ja geplant, das einen Monat lang laufen zu lassen, doch in der allgemeinen Anspannung brachte er offenbar diese Geduld nicht auf und ließ es nach diesen wenigen Tagen schon wieder bleiben. Nicht aber, ohne stattdessen eine unbekannte Zahl von Fleischliebhabern zu töten, die an Ort und Stelle und damit inmitten der Wachteln begraben wurden.

Zu allem Überfluss wurde nun auch Moses von seinem Bruder und von Mirjam kritisiert, die zwar bisher nie erwähnt wurde, nun aber als die Schwester der beiden vorgestellt wird. Was war vorgefallen? Moses hatte im Grunde immer das Leben eines Außenseiters geführt. Er wuchs nicht unter Juden auf, sondern in einem fremden Land, wo er keine jüdische Frau heiratete. Dass er trotzdem den Auszug aus Ägypten anführte, war insofern ein wenig überraschend. In der Wüste nun nahm er sich wieder eine Frau und unter den geänderten Umständen doch sicherlich eine Israelitin, würde man vermuten. Immerhin war er der Anführer einer jüdischen Freiheitsbewegung, die als Sklavenaufstand begonnen hatte. Doch er entschied sich für eine kuschitische Frau. Was hieß: keine Israelitin. Schon wieder nicht!

Also kam zum Streit zwischen den Geschwistern, in den Gott aber kompromisslos zugunsten von Moses eingriff. Mirjam wurde „weiß wie Schnee vor Aussatz“ mit dem Gott sie strafte, woraufhin Aaron Moses bat, bei Gott ein gutes Wort für ihre Schwester einzulegen. Moses vergaß den Streit und erfüllte seinem Bruder den Wunsch. Gott antwortete ihm: „Wenn ihr Vater ihr ins Gesicht gespuckt hätte, müsste sie sich dann nicht sieben Tage lang schämen?“ Nun könnte man einwenden, dass eine solche Tat für den Vater ein Grund zum Schämen sein sollte, aber Gott hatte offenbar eine andere Vorstellung vom familiären Umgang miteinander. Letztlich musste Mirjam also für sieben Tage außerhalb der Gemeinschaft verbringen, bevor der Aussatz verschwand.

Trotz all dieser Streitereien wurde das eigentliche Ziel nicht aus dem Auge verloren. Darum wurden zwölf Spione, einer aus jedem Stamm Israels, ausgewählt, die ins Land Kanaan vorauseilen sollten, um möglichst viel über die Landschaft und seine Bewohner zu erfahren. Mit ihnen betraten erstmals seit 432 Jahren Israeliten das Land, das Gott ihnen versprochen hatte. Noch unerkannt und in geheimer Mission, aber immerhin. Vierzig Tage – wieder diese Zahl – reisten sie umher, bevor sie mit gemischten Gefühlen zurückkehrten.

Ja, es sei wahr, dass es wirklich ein Land sei, in dem Milch und Honig fließen, verkündeten sie dem neugierigen Volk. Doch es gebe auch eine sehr schlechte Nachricht: Das Land werde von starken und mächtigen Völkern bewohnt. Ausgeschmückt wurde diese Einschätzung durch Propagandamärchen, die einige der Spione verbreiteten und das Volk noch unruhiger machten: „Sogar die Riesen haben wir dort gesehen. Wir kamen uns selbst klein wie Heuschrecken vor und auch ihnen erschienen wir so.“ Umso mehr solcher Schauergeschichten die Runde machten, umso empörter war das Volk. Was machten sie hier draußen in der Wüste? In Ägypten hatten sie ein Dach über dem Kopf gehabt und immer genug zu essen und nun erfuhren sie, dass das Land, das Gott ihnen angeblich versprochen hatte, von wilden Kriegern und mächtigen Riesen bewohnt wird.

Wie groß die Wut war, dürften Moses und Aaron erst begriffen haben, als das Volk sie zu steinigen drohte. Sie fielen beide auf die Knie und warfen sich „auf ihr Gesicht nieder“. Vermutlich wären die Architekten der israelitischen Flucht an Ort und Stellen erschlagen worden, wenn nicht mit Josua und Kaleb, zwei der zwölf Spione, für sie Partei ergriffen hätten. Sie verbreiteten ohnehin Optimismus und versprachen, dass die Eroberung des Landes sehr wohl gelingen wird und sich lohnen würde, da es „sehr, sehr gut“ sei. Letztlich überstanden die beiden alten Brüder auch diese heikle Situation unbeschadet, wobei die hierbei erlebte Gewaltbereitschaft Spuren hinterließ. Offenbar vor allem bei Gott.

Er war fassungslos und dachte wieder laut darüber nach, alle „mit der Pest zu schlagen und auszurotten“. Alle bis auf Moses. Er hatte diesen Plan schon auf dem Berg Sinai geäußert, als das Volk sich das Goldene Kalb gebaut hatte und damals verhinderte nur das durchaus vorhandene rhetorische Geschick von Moses, dass Gott ihn in die Tat umgesetzt hatte. Was er nun hörte, musste sich für Moses – gerade selbst nur um Haaresbreite einem Lynchmord entkommen – wie ein apokalyptisches Déjà-vu angefühlt haben. Erneut musste er also alle Überzeugungskraft aufbringen, um den HERRN umzustimmen. Er appellierte an die Eitelkeit Gottes, was denn die Feinde der Juden sagen würden, wenn er das wirklich durchzieht. Sie würden doch sicherlich hämischen ausrufen: „Weil der HERR nicht imstande war, dieses Volk in das Land zu bringen, das er ihnen mit einem Eid verheißen hatte, hat er sie in der Wüste abgeschlachtet.“

Damit hatte Moses einen wunden Punkt bei Gott getroffen und erneut ließ dieser einen „Ich töte alle und wir zwei fangen nochmal ganz von vorne an“-Plan fallen. Gar nicht schlecht, was Moses da an Überzeugungskraft aufbringen konnte. Vor allem für jemanden, der von sich selbst sagte, dass er nicht gut reden kann. Ohnehin scheint es aber so, als hätte er in der Wüste diese Schwäche zunehmend überwunden. Vielleicht war es auch einfach eine Frage der Übung, denn er musste ständig mit Gott, dem Volk und seinem Bruder Aaron reden, während er zuvor das zurückgezogene Leben eines Hirten geführt hatte, der die meiste Zeit stumm auf einer Weide stand und den Lauf der Sonne beobachtete.

Allerdings gab es Gottes Zusage nicht ohne eine gravierende Einschränkung, die sogleich die Moral im Volk sinken ließ und zeigte, wie enttäuscht er war. Keiner der Männer, die erlebt hatten, wie Gott die Plagen über Ägypten brachte und das Meer teilte und trotzdem seine Geduld „schon zum zehnten Mal auf die Probe gestellt“ hatten, „werde das Land zu sehen bekommen, das ich ihren Vätern mit einem Eid verheißen habe.“ Wen er dabei im Blick hatte, machte er auch sogleich klar: alle! Jeder einzelne Mann, Moses eingeschlossen, fiel unter diesen Bann. Wobei seine wuchtigen Worte streng genommen nicht ganz korrekt waren, denn zwölf Israeliten aus dieser Generation hatte ja soeben schon dieses verheißene Land bereist, das angeblich keiner je „zu sehen bekommen wird.“

Gott löste dieses Problem aber ohnehin auf radikale Art, da er zehn der zwölf Spione sterben ließ, wobei er ihnen vor allem die Verbreitung der Schauermärchen zur Last legte, die im Volk für Unruhen gesorgt hatten. Die beiden letzten Spione aber machte er zu den einzigen Ausnahmen und erklärte, dass keiner aus dieser Generation das Land erreichen werde, „außer Kaleb, der Sohn Jefunnes und Josua, der Sohn Nuns.“ Vermutlich handelte es sich auch um eine Auszeichnung dafür, dass sie Moses und Aaron gegen den Mob beistanden und auch sonst versuchten, die Gerüchte über die Riesen und die angebliche Uneinnehmbarkeit des Landes zu zerstreuen. Doch selbst nach der Bestrafung der Kundschafter und der Verkündung des Banns für diese Generation, war Gott noch zornig und sprach in Bezug auf sein Volk von einer „ganz bösen Gemeinde.“

Eigentlich verlief die Reise seit dem Abmarsch vom Berg Sinai absolut katastrophal und das auf nahezu jeder Ebene. Dass die Juden nun erst in das Land einziehen können, wenn der Letzte aus der aktuellen Generation gestorben ist – von den beiden Ausnahmen Kaleb und Josua abgesehen -, sorgte für weitere Bitterkeit und Verunsicherung im Volk. Zu allem Überfluss entschieden sich die Juden dann auch noch gegen den Ratschlag Gottes, die Berge zu meiden und stattdessen am Meer entlangzuziehen, da es in den Bergen Feinde geben würde. Die gab es wirklich und sie griffen auch sofort an. Da Gott unter diesen besonderen Umständen keinen Anlass sah, einzugreifen, flüchteten die Juden in wilder Panik zurück ins Flachland. Eigentlich nur der konsequente Schlusspunkt des ersten Teilstücks einer Reise, dessen Ziel keiner der erwachsenen Männer (bis auf zwei) erreichen wird.

Fortsetzung folgt…