„Der Herr, unser Gott, ist im Recht“, heißt es gleich zu Beginn, um die Schuldfrage sofort zu klären. Warum er im Recht war, Jerusalem und den Tempel verwüsten zu lassen, während die Babylonier mordend durch Juda zogen und schließlich mit Tausenden Gefangenen abzogen, wird ebenfalls erklärt: „Vom Tag an, als der Herr unsere Vorfahren aus Ägypten herausführte, bis auf den heutigen Tag waren wir ungehorsam gegen den Herrn, unseren Gott.“
Ob dieser Ungehorsam wirklich eine solche Katastrophe rechtfertigte, die über die Juden kam, wäre womöglich noch zu diskutieren. Aber diesen Bedarf sah offenbar niemand, denn schon ging es weiter mit der schonungslosen Selbstanklage, in der vom eigenen bösen Herzen und der Verehrung von Götzen die Rede war. Dass in Jerusalem „der eine von uns das Fleisch des eigenen Sohnes, der andere das Fleisch der eigenen Tochter“ isst, wird ebenfalls nicht kritisiert, sondern lediglich als etwas noch nie Dagewesenes bezeichnet, das schon „im Gesetz des Mose“ angekündigt wurde. Außer Frage steht aber immer wieder, dass „der Herr, unser Gott, im Recht“ ist mit „all seinen Fügungen, die er über uns verhängt hat.“
Dabei hätte es sogar die Möglichkeit gegeben, dass die Katastrophen deutlich geringer ausfallen, als sie es letztlich taten. Schließlich ließ Gott „seinen Knecht“ Nebukadnezzar die judäische Elite nach Babel verschleppen, weil der HERR die Hoffnung hatte, dass schon diese Bestrafung für ein Umdenken reichen würde. Dabei irrte er sich, woraufhin die eigentlichen Zerstörungen in Juda folgten, wozu auch das Ende des Tempels gehörte. Ebenso bewahrheitete sich die Warnung, nach der „diese unzählbar große Volksmenge zu einer kleinen Minderheit werden wird unter den Völkern, wohin ich sie verbanne.“ Und doch hatte der HERR einen Plan, warum er genau Babel als Exil ausgewählt hatte.
Auf gewisse Weise handelte es sich dabei um eine Art Strafbankzeit, die dazu genutzt werden sollte, die Fehler aus der Vergangenheit zu überdenken, um es in Zukunft besser zu machen. Eine Art kritischer Reflektion des Volkes, für das der HERR es offenbar für notwendig hielt, es größtenteils aus dem gelobten Land zu verschleppen, damit es weit entfernt in Babel die nötige Distanz zu allem hat – und durch die miterlebten Schrecken auch weiß, dass Gott in Sachen Bundestreue keine Kompromisse mehr eingehen wird.
Sein Plan bestand aus drei Phasen. In der ersten Phase ging es darum, das Verhalten des „halsstarrigen Volkes“ zu verändern, das im Exil erkennen werde, „dass ich der Herr, ihr Gott“ bin, woraufhin es „mich im Lande ihrer Verbannung preisen und meines Namens gedenken“ werde. In Phase zwei „werde ich sie in das Land zurückführen, das ich ihren Vätern Abraham, Issak und Jakob unter Eid versprochen hatte“ und schließlich in Phase drei das Versprechen: „Nie wieder werde ich mein Volk Israel aus dem Land verstoßen, das ich ihm gegeben habe.“ Von daher durften die Juden zu Recht hoffen, dass alles Leid eines Tages ein Ende findet und der Bund erneuert wird.
Immerhin gab der HERR ihnen die Gelegenheit, zu ihm zurückzukehren, und es schien so, als ob das nach all den traumatischen Ereignissen ebenfalls der Wunsch des Volkes war. Auch wenn die Vollzugsmeldung, „wir haben aus unserem Herzen alle Bosheit unserer Vorfahren entfernt, die gegen dich gesündigt haben“ auffällig schnell erfolgte, zeigte sie doch, dass Gottes Plan zu funktionieren schien.
(Fortsetzung folgt…)