In insgesamt fünf Liedern wurde das Leid betrauert, das über die Juden und speziell über Jerusalem gekommen war, diese „einst so volkreiche Stadt“, die nun  „einsam da sitzt“, während „ihre Bedränger an der Macht“ und „ihre Feinde im Glück“ sind. Dass Gott selbst die Stadt zum „Schandfleck“ machte, ist dabei jedem klar, denn er ist „wie ein Feind geworden“, der „Israel vernichtet hat.“ Die Wenigen, die nach der Eroberung, den Massakern und den Verschleppungen noch in der Stadt lebten, „streuen sich Staub aufs Haupt“ und „legen Trauerkleider an“, während sie mit gesenktem Blick umherirren.

Die Rede ist von bettelnden Kindern und von Menschen, „die einst Leckerbissen schmausten“ und nun auf der Straße „verschmachten“ oder früher „auf Purpur lagen“ und sich nun „an Unrat klammern.“ Es ist auch die Rede von erschlagenen Priestern und Propheten und von sexuellem Missbrauch an den Frauen. Zu was für schrecklichen Szenen es gekommen sein muss, zeigt sich auch daran, dass Kannibalismus in gleich zwei der fünf Lieder erwähnt wird. Im zweiten wird die grausame Frage gestellt: „Dürfen Frauen ihre Leibesfrucht essen, / die sorgsam gehegten Kinder?“, die in Lied vier in erschütternder Klarheit beantwortet wird: „Die Hände liebender Frauen / kochten die eigenen Kinder.“

Trotz allem werden diese Klagelieder nicht nur von den Tragödien dominiert, die betrauert werden, sondern auch von der Hoffnung und Sehnsucht, dass Gott sich wieder seinem auserwählten Volk annähern möge. Darum heißt es: „Die Huld des HERRN ist nicht erschöpft, / sein Erbarmen ist nicht zu Ende“ und „Gut ist der HERR zu dem, der auf ihn hofft“ oder auch ganz konkret: „Lass du, HERR, uns zurückkehren zu dir, / dann kehren wir um! Erneuere unsere Tage wie in der Urzeit!“

Ergänzt um die Sorge, den HERRN für immer gegen sich aufgebracht zuhaben: „Oder hast du uns denn ganz verworfen, / zürnst du uns über alle Maßen?“, wofür es in den Klageliedern ebenfalls Verständnis gibt, da die begangenen Sünden größer seien, als „als die Sünden Sodoms“ – und diese Stadt wurde schließlich vollständig zerstört und ihre Einwohner (bis auf Lot, seine zu neugierige Frau und ihre zwei Töchter) getötet. Doch die Hoffnung blieb – vielleicht auch nur deswegen, weil sie das einzige war, das die schwer gestraften Juden in jener Zeit noch hatten.

(Fortsetzung folgt…)