Jeremia sollte in einer besonders dramatischen Geste einen „Becher von Zornwein“ zu allen Völkern bringen, die Gott hart bestrafen oder sogar vernichten will. „Trinken sollen sie, taumeln und torkeln vor dem Schwert, das ich unter sie schicke!“, erklärte der HERR, woraufhin sich sein Prophet mit dem Gefäß und dem Getränk auf die Reise begab. Es stellte sich heraus, dass es eine Weltreise werden sollte – zumindest an die Ränder dessen, was vom gelobten Land aus damals als Welt bekannt war -, denn er machte in Juda Station, beim Pharao, beim „Völkergemisch Uz“, bei den Philistern, in Aschkelon, Gaza, Ekron, und dem Rest von Aschdod, außerdem in Edom, Moab und bei den Ammonitern. Er besuchte die Könige von Tyrus und Sidon, die „Inseln jenseits des Meeres“ sowie die Herrscher mit „gestutzten Haaren“, außerdem die Monarchen Arabiens und des „Völkergemischs in der Wüste.“ Zuletzt ging er auch zu den Königen von Simri, Elam, Medien und Scheschach und zu denen „im Norden“ und so ganz allgemein „zu allen Reichen der Welt, die es auf der Erde gibt.“

Jeremia dürfte damit zu so etwas wie dem ersten Fernreisenden der Geschichte geworden sein, der so viel Länder gesehen hat, wie vielleicht kein Mensch vor ihm. Auch wenn der Grund seines Reiseeifers ein düsterer war und seine Art, den Völkern ihren drohenden Untergang mithilfe eines Schlucks aus einem Weinbecher aufzunötigen, seltsam melodramatisch. Seine Besuche müssen ohnehin bemerkenswert seltsam abgelaufen sein, schließlich predigte er seinen Gastgebern nicht einfach ihren Untergang, sondern begleitete auch den Schluck aus dem Becher mit der Bemerkung: „Trinkt, berauscht euch und speit, stürzt hin und steht nicht mehr auf vor dem Schwert, das ich unter euch schicke!“ Es überrascht, dass er dafür nicht reihenweise von den Königshöfen gejagt wurde oder sogar in dunklen Kerkern landete. Auf jeden Fall hat Jeremia damit den wohl deprimierendsten Toast ausgesprochen, der je vorgebracht wurde.

Der HERR selbst ahnte offenbar, dass Menschen im Allgemeinen recht gereizt auf Fremde reagieren, die mit einem Becher voller „Zornwein“ auftauchen, einem die baldige Vernichtung ankündigen und dann verlangen, dass man nun bitteschön den Becher leeren soll. Darum sprach er mit Jeremia auch darüber, was er entgegen soll, wenn auf seine apokalyptischen Reden hin nicht getrunken wird. In diesem Fall, bei dem es sich mit ziemlicher Sicherheit um den Normalfall handelte, wäre der Ruf nötig: „Ihr werdet trinken!“ Bevor er erläutern sollte: „Denn siehe, bei der Stadt, über der mein Name ausgerufen ist, beginne ich mit dem Unheil und da sollet ihr ungestraft bleiben? Nein, ihr werdet nicht ungestraft bleiben; denn ich rufe das Schwert gegen alle Bewohner der Erde.“ Danach würde Jeremia also wieder den Becher dem jeweiligen König anbieten, damit dieser nun endlich trinkt.

Da es für Gottes Pläne keine Bedeutung hatte, ob die Monarchen den „Zornwein“ trinken oder nicht (so wie es ihnen egal sein dürfte, dass der HERR auch sein Volk züchtigt), ist die Frage, warum der HERR darauf nicht einfach verzichten konnte. Hätte es nicht gereicht, Jeremia einfach zu allen Herrschern zu schicken und ihnen die unbequeme Wahrheit einfach ins Gesicht sagen zu lassen? Aus irgendeinem Grund aber schien das Gott zu wenig und darum hielt Jeremia in vielen Königreichen vielen verdutzten, verängstigten oder schlicht verärgerten Herrschern seinen Becher hin. Schließlich hatte Gott auch vor der Sintflut seinen Schützling Noah nicht von einem Königreich zum anderen reisen lassen, um das baldige Ende der alten Welt zu verkünden, um die soeben mit dieser erschütternden Nachricht überrumpelten Anführer zu bedrängen, nun ein Stück Brot zu essen, das er mitgebracht hat.

Und tatsächlich bietet sich der Vergleich mit der Sintflut auf, da es sich um das größte Zerstörungswerk handelt, das Gott seit der Unterwassersetzung der Schöpfung in Gang setzt. Es umfasst zwar nicht die gesamte Menschheit und alle Tiere (bis auf die Fische), aber trotzdem werden „die Erschlagenen daliegen an jenem Tag / von einem Ende der Erde bis zum anderen“, da der „HERR einen Rechtsstreit mit den Völkern hat; er hält Gericht über alles Fleisch.“ Wen er für schuldig hält, den zerschmettert er „wie ein Prunkgefäß“ und lässt ganze Länder „zu einem Bild des Entsetzens“ werden.

Und diese Ankündigungen sollten die Könige der Welt auch noch mit einem Schluck Wein aus einem mitgebrachten Becher bestätigen. Vielleicht war das tatsächlich etwas zu viel verlangt. Jeremia dürfte darum oft die Rede gehalten haben, die für jene gedacht war, die diesen düsteren Umtrunk verweigerten.

(Fortsetzung folgt…)