Als ob Gott sein unnachgiebiges Vorgehen gegen das auserwählte Volk vor sich selbst rechtfertigen muss, fasste er erneut die Sünden zusammen, die ihn zu diesem harten Schritt gebracht hatten. Dabei verglich er Israel und Juda miteinander, wobei es nur darum ging, welches der beiden Reiche noch mehr Sünden begangen hatte als das andere. In Israel sah er „Anstößiges“ am Werk, denn „sie prophezeiten im Namen des Baal / und verführten mein Volk Israel.“ Doch noch düsterer urteilte er über Juda, dort ginge es nicht mehr nur anstößig zu, sondern grauenhaft: „Sie brechen die Ehe, gehen mit Lügen um und bestärken die Bösen, / sodass keiner umkehrt von seiner Bosheit.“ Kurzum fand der HERR für Israel und Juda keinen Vergleich passender als den mit Sodom und Gomorra. Immer würden falsche Propheten außerdem das Volk mit der Behauptung beruhigen: „Der HERR hat geredet / das Heil ist euch sicher.“ Womöglich ließ Gott darum eine solche Zerstörung über das Land hereinbrechen, um keinen Zweifel daran zu lassen, wie falsch diese Heilsversprechungen waren.
Nachdem all das geschehen war, was Gott angekündigt hatte, und das Land verwüstet da lag und die meisten seiner Einwohner tot waren, trat Jeremia vor die Ruine dessen, was zuvor der Tempel gewesen war. Auch die politische, religiöse und wirtschaftliche Elite gab es nicht mehr, denn sie wurde ins babylonische Exil geführt. Zurück blieb nur eine kümmerliche und desorientierte Gemeinde, deren Anwesenheit die Katastrophe nur noch mehr unterstrich, die das Judentum ereilt hatte. Schließlich erinnerte sie jeden an die einstige Stärke und Macht, die von diesem Volk im gelobten Land ausgegangen war. Jeremia jedenfalls stand vor den Ruinen des Gotteshauses, die zugleich auch die Ruinen eines in der Existenz bedrohten und mutlosen Judentums darstellten.
In diesem Moment absoluter Hoffnungslosigkeit zeigte Gott ihm dort zwei Körbe mit Feigen. In den einen lagen gute Feigen und in den anderen ungenießbare. „Was siehst du da?“, wollte der HERR wissen und Jeremia antwortete ebenso richtig wie knapp: „Feigen“. Danach wurde er aber doch noch konkreter: „Die guten Feigen sind sehr gut, die Schlechten aber sehr schlecht.“ Gottes Antwort wurde zum Bekenntnis dazu, dass die Geschichte der Juden und des gemeinsamen Bundes trotz allem nicht vorbei ist: „Wie auf diese guten Feigen, so schaue ich auf die Verschleppten aus Juda, die ich von diesem Ort vertrieben habe ins Land Chaldäer.“ Er würde jene Menschen wieder ins gelobte Land heimkehren lassen, wobei die Juden, die er den schlechten Feigen zuordnete, in der Fremde sterben sollten. Dabei erwähnte er König Zidkija erneut namentlich und sagte ihm ein Ende voraus, das eng mit Schwertern, Hunger und Pest zusammenhing. Dass ein jüdischer König vom HERRN nur dann erwähnt wird, wenn es gilt, ihm ein möglichst grausames Ende anzukündigen, zeigt ebenfalls, wie tief in jener Zeit der Bruch im Bund ging.
Schließlich sprach Jeremia zu denen, die alle Wirren überstanden hatten und schlicht nicht wichtig genug waren, um ins Exil verschleppt zu werden, und genug Glück hatten, um alle anderen Gefahren zu überstehen. Er erinnerte daran, dass er seit vielen Jahren praktisch nichts anderes machen würde als zu predigen und zu predigen und vor dem zu warnen, was nun genau so eingetreten sei, wie er es immer befürchtet hatte. Und doch hatte seine Rede dieses Mal eine überraschende Neuerung zu bieten: etwas Positives. Nach siebzig Jahren der Fremdherrschaft und Unterdrückung würde das auserwählte Volk wieder seine Freiheit erhalten. Nach dieser Zeit würde Gott die Unterdrücker in Babel hart bestrafen: „Dann suche ich den König von Babel und sein Volk heim für ihre Schuld und auch das Land der Chaldäer, indem ich es zur Wüste mache. So vergelte ich ihnen entsprechend ihren Taten und dem Tun ihrer Hände.“ Für die Juden handelte es sich ohne Zweifel – und endlich mal wieder – um gute Nachrichten, aber für die Bewohner des Königreich Babels dürfte es wiederum nicht sofort klar sein, warum Gott sie für „ihre Taten“ zur finalen Rechenschaft ziehen will, die doch auf sein Verlangen hin vollführt wurden und an denen er sich sogar selbst beteiligt hatte.
(Fortsetzung folgte…)