Jeremia ist einer der wichtigsten und definitiv der schreibfreudigste aller Propheten. Nach eigenen Angaben wusste er schon sehr früh, dass Gott etwas Besonderes mit ihm vorhat, genaugenommen schon vor der Zeit seiner Zeugung. Bis seine Mitbürger von seiner Mission erfuhren, verging danach aber erst noch eine Schwangerschaft, eine Geburt, eine Kindheit und eine Jugend, eher der erwachsene Jeremia sich daranmachte, das Wort des HERRN zu verbreiten. Man kann nicht behaupten, dass die Zeiten gut waren, in denen er lebte, denn die Entfremdung zwischen Gott und seinem Volk war weit fortgeschritten und schien mit jedem Tag weiter zuzunehmen, wofür auch der zu jener Zeit schon vollzogene Untergang des Königreichs Israels sprach. Während seiner Zeit als Prophet erlebt er drei Könige in Juda und den völligen Zusammenbruch der Eigenstaatlichkeit, die mit der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar abgeschlossen wurde.
Mit König Joschija regierte zu Beginn jener Herrscher, der bei der Thronbesteigung erst acht Jahre alt gewesen war und zur allgemeinen Überraschung nicht nach kürzester Zeit gestürzt oder ermordet wurde, sondern es auf eine beachtliche Regierungszeit von einunddreißig Jahren brachte. Er regierte sogar auf eine Weise, die „dem HERRN gefiel“, was für einen trügerischen Moment die Hoffnung aufleben ließ, dass das Volk und der HERR schnell wieder zueinander finden. Spätestens sein Sohn und Nachfolger jedoch tat alles, um diese letzte Hoffnung zu zerstören, wobei die vielleicht beste Nachricht über seine Regentschaft schon ihrer ausgesprochenen Kürze von nur zwölf Wochen war, bevor mit Zidkija schließlich jemand König wurde, der kein eigenständiges Reich mehr regierte, sondern eine Provinz der Babylonier zu verwalten hatte.
Soweit also die politischen Ereignisse, die die Zeit Jeremias prägten und einer stetig größer werdenden Katastrophe ähnelten. Womöglich war aber niemand so wenig über diese Ereignisse überrascht wie eben Jeremia selbst, denn schließlich tat er im Grunde über Jahre hinweg nichts anderes, als vor den Katastrophen zu warnen, die drohten und die schließlich alle eintraten, weil niemand auf ihn hören wollte. Hätte man ihm zugehört, hätte man womöglich bemerkt, wie tief getroffen der HERR von der Entfremdung des Volkes vom gemeinsamen Bund war. „Was fanden eure Väter Unrechtes an mir, dass sie sich von mir entfernten?“, fragte er Jeremia, und erinnerte daran, dass er doch gegen alle Widerstände den Auszug aus Ägypten, die Durchwanderung der Wüste und die Inbesitznahme des Gelobten Landes ermöglicht hatte.
Doch als Gegenleistung wäre das Volk ihm untreu geworden und die falschen Propheten hätten sich dem Götzendienst zugewendet, während die wahrhaftigen Propheten vom Volk getötet wurden. „Hat je ein Volk seine Götter gewechselt?“, wundert er sich und damit es niemand missversteht, schiebt er nach, „dabei sind es keine Götter.“ Umso länger er über die Gründe spekuliert, umso mehr mischt sich Wut in seine Überlegungen, weswegen er seinem Volk vorwirft: „Auf jedem hohen Hügel und unter jedem üppigen Baum hast du dich als Dirne hingestellt“, obwohl er selbst die Israeliten doch als „Edelrebe“ gepflanzt habe, „als gutes, edles Gewächs.“ Immer wieder kommt er aber auf die größte Kränkung zurück, nämlich die Vielgötterei und den Götzendienst, die doch schon im ersten der zehn Gebote kategorisch ausgeschlossen werden. Ungewohnt sarkastisch merkt er gegenüber seinem treuen Propheten an: „Denn so zahlreich wie deine Städte, Juda, sind auch deine Götter.“
(Fortsetzung folgt…)